: Carl Schmitt oder die Versuchung des Leviathan
■ Eine Erinnerung an den Kronjuristen der konservativen Revolution und ein Hinweis auf eine in den USA erschienene Biographie
Friedrich Balke
Am 11. Juli dieses Jahres hätte Carl Schmitt - aktiver Zeitgenosse aller vier Etappen deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert - seinen 100. Geburtstag begangen. Wissenschaftliche und publizistische Öffentlichkeit werden dieses Datum nicht unkommentiert verstreichen lassen. Bei der Linken zumal löst der „Fall Schmitt“ jedoch nach wie vor intellektuelle Berührungsängste aus. Eine kreative Rezeption seines facettenreichen Werks wird dadurch erschwert, daß die Reputation seines Autors erheblich beschädigt ist. So hat man nach dem Untergang des Dritten Reichs Schmitts Entscheidung für den Nationalsozialismus zum Anlaß genommen, sich gegen seine Theorieangebote zu entscheiden, deren gewichtigste allesamt aus der Zeit der Weimarer Republik stammen.
Unter dem Titel „Carl Schmitt. Theorist for the Reich“ gemeint ist nicht allein das Dritte - hat der amerikanische Historiker Joseph W. Bendersky bereits 1983 eine erste, bei uns weitgehend unbeachtet gebliebene umfassende intellektuelle Biographie Schmitts vorgelegt, die die gewohnten Kurzschlüsse vom 'Leben‘ aufs 'Werk‘ vermeidet. Ihr vorrangiges Ziel ist die Erschütterung der Plausibilität einer vor allem in den fünfziger Jahren durchgesetzten konsequent finalistischen Lektüre der Schriften Schmitts. Man argumentierte etwa: Wer schon zu Beginn der Weimarer Republik eine Monographie über die „Diktatur“ schrieb, wen sollte es da wundern, wenn er sich später aktiv an ihrer Etablierung auf deutschem Boden beteiligte? Gegen dieses weithin verbreitete, pädagogisch gewendete Schmitt -Bild schreibt Benderskys Buch an, dessen wichtigste Ergebnisse auch einer größeren deutschsprachigen Öffentlichkeit vorgestellt zu werden verdienen - zumal wir auch im Schnitt-Jahr 1988 wahrscheinlich vergeblich auf eine Übersetzung dieser ersten Schmitt-Biographie warten.
Das Buch besticht vor allem durch seine akribische Analyse der kontinuierlichen publizistischen Interventionen Schmitts in das bewegte tagespolitische Geschehen der Weimarer Republik. Schmitt hat Zeit seines Lebens die Nähe zum Leviathan gesucht: aber auf eine so obsessive Weise, daß sein Diskurs sich stellenweise bis zur Ununterscheidbarkeit der verfemten Rede des Stasiologen (des Aufrührers) angleicht. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, vom 'bösen Blick‘ des Carl Schmitt zu profitieren, ohne doch psychoanalytisch gesprochen - der Versuchung einer Identifikation mit dem Aggressor zu erliegen. II
1988 wird Schmitt als Nachfahre rheinischer Katholiken im protestantischen Preußen geboren. Sein 1907 in Berlin aufgenommenes Studium der Rechte schließt er bereits drei Jahre später in Straßburg erfolgreich ab. Der promovierte Jurist entscheidet sich für eine Karriere im preußischen Staatsdienst.
Eine während der Grundausbildung zugezogene Verletzung an der Wirbelsäule dispensiert Schmitt nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs vom Kriegsdienst an der Front. Ironischerweise ist es ihm, der die Eventualität kriegerischer Konflikte zum Inbegriff des Politischen machen wird, Zeit seines Lebens erspart geblieben, das Risiko des bewaffneten Kampfes persönlich auf sich nehmen zu müssen. Schmitt wird 1915 einer Abteilung des stellvertretenden Generalkommandos von München überstellt, die dort über die Einhaltung des militärischen Belagerungszustandes wacht. Seine einige Jahre später vorgelegten ersten wichtigen Bücher verarbeiten allesamt die Erfahrungen mit den Auswirkungen einer „totalen“ Intervention des Staates in fast alle zuvor als „privat“ abgegrenzten Bereiche der Gesellschaft. Die Funktion staatlicher Autorität bestimmt Schmitt seitdem von der Möglichkeit ihrer „existentiellen Bedrohung“ her.
Nach der Zerschlagung des Experiments popularer Selbstorganisation durch den weißen Terror der Freikorps verhält sich Schmitt zur Weimarer Verfassung nicht zuletzt deshalb uneingeschränkt loyal, weil sie - seiner Analyse zufolge - zwar die Demokratisierung des politischen Systems bestätige, die Kernsituationen des überkommenen Staates Verwaltung, Justiz, Armee - in ihrer Substanz jedoch nicht antaste.
Vor dem Hintergrund seines 1921 veröffentlichten Buches über die „Diktatur„, deren Begriffsgeschichte „von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf“ rekonstruiert wird, interpretiert Schmitt den entscheidenden Art. 48 RV als die Ermächtigung des Reichspräsidenten zu einer kommissarischen (verfassungsmäßig verankerten) Diktatur in Fällen, wo unmittelbar Gefahr für die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ droht. Der „Diktaturparagraph“ sanktioniere alle Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der verfassungsmäßig definierten Ordnung notwendig sein können - auch wenn sie eine zeitweilige „Durchbrechung“ von Verfassungsrecht zur Folge haben.
Die 1922 erschienene „Politische Theologie“ ist gegen die von der „reinen“ Rechtslehre geforderte „Verdrängung“ (Kelsen) der Souveränität und des Ausnahmezustandes geschrieben. Sie insistiert auf der Differenz von juristischen Normierungen und gesellschaftlicher Normalität. Das Recht greift überhaupt erst ein, wenn zuvor die - mit Gramsci zu sprechen - hegemonial festgelegte Ordnung durchgesetzt ist. Die „Souveränität der Rechtsordnung“ kann nach Schmitt nur behaupten, wer naiv unterstellt, daß „Ruhe und Ordnung“ stets von jedermann als „erste Bürgerpflicht“ akzeptiert werden. III
In den Jahren zwischen 1922 und 1928 - die er als Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn verbringt vollzieht sich Schmitts Aufstieg zu intellektueller Prominenz. Nach der Wahl des Feldmarschalls Hindenburg zum Reichspräsidenten entbrennt unter den Weimarer Demokraten erneut eine lebhafte Debatte um die Verabschiedung eines Ausführungsgesetzes zu Art. 48 RV, das die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten präzise umschreiben soll. Schmitt spricht sich öffentlich gegen dieses Vorhaben unter den nach wie vor instabilen Bedingungen der Republik aus. Zudem verbiete die unvorhersehbare Variabilität der Krisentypen in einer modernen industriellen Gesellschaft die rechtliche Fixierung von Tatbeständen, an deren Vorliegen die Ausübung der Diktaturgewalt zwingend gebunden wäre. Obwohl Schmitt zu diesem Zeipunkt noch keine persönlichen Kontake zur Umgebung des Reichspräsidenten unterhält, benutzen dessen Berater Schmitts Interpretation des Art. 48 RV zur Rechtfertigung ihrer Zurückweisung des von der Regierung Marx entworfenen Ausführungsgesetzes. Zum erstenmal greifen die Agenten des staatlichen Exekutivapparats zur Wahrung ihrer Rechtsposition auf ein diskursives Angebot Schmitts zurück ein präsidiales feedback mit Folgen.
Seit dem Frühjahr 1928 - Schmitt hat inzwischen den Hugo -Preuss-Lehrstuhl der Handelshochschule in Berlin übernommen - ist er dem politischen Machtzentrum der Weimarer Republik endlich auch räumlich nähergerückt - und das in einem Augenblick, wo die ökonomisch, politisch und kulturell definierte „konkrete Situation“ die Integrationsleistung der staatlichen Institutionen zu überfordern beginnt. In den Augen Schmitts hat sich Weimar immer konsequenter zu einem „pluralistischen Parteienstaat“ entwickelt, der die parlamentarische Bildung eines einheitlichen staatlichen Willens aus der Vielheit gesellschaftlicher Gruppierungen nicht mehr zulasse. Der politische Theologe artikuliert offen die phantasmatische Dimension seiner Situationsdeutung: „Wenn der 'irdische Gott‘ von seinem Throne stürzt (...), dann schlachten die Parteien den mächtigen Leviathan und schneiden sich aus seinem Leibe jede ihr Stück Fleisch heraus.“
Schmitt plädiert vor diesem Hintergrund für die öffentliche Durchsetzung und Anerkennung eines „pouvoir neutre“ zur Verteidigung der Verfassung, einer „neutralen Macht“, die nicht nur juristisch, sondern auch politisch in der Lage ist, Freund und Feind der Verfassung zu unterscheiden. Als Kandidat für diese Instanz kommt nach Schmitt allein der Reichspräsident - aufgrund seiner Befugnisse nach Art. 48 RV und seiner Stellung als Chef der Exekutive - in Frage, den er in einem Aufsatz vom März 1929 erstmals als den „Hüter der Verfassung“ apostrophiert.
Die Metaphorik dieses imaginären Titels ist natürlich auf die patriarchalische Selbstinszenierung des „greisen Feldmarschalls“ zugeschnitten und spekuliert auf das kollektive Unbewußte eines Publikums, das vom Autoritarismus des wilhelminischen Regimes noch längst nicht entwöhnt ist. Gerade wenn man diese theoretische Vorwegnahme präsidialer Regierungspraxis als reaktionär kritisiert, muß man sich doch fragen, ob Schmitt nicht bloß rücksichtslos zu Ende denkt, was der Verfassungstext in seiner ganzen Ambivalenz die sich im Art. 48 RV konzentriert - herrschaftstechnisch „hergab“.
Für die Regierung Brüning verfaßt Schmitt - der seit 1929 gute Kontakte zu Schleicher, dem politischen General „im Hintergrund“ unterhält - schon bald ein juristisches Gutachten, in dem er die Ausdehnung der präsidialen Notverordnungsbefugnisse auch auf finanz- und wirtschaftspolitische Materien als verfassungsmäßig - unter Berufung auf die veränderte Typik möglicher Ausnahmezustände - rechtfertigt.
Das Scheitern der ohne Massenbasis administrierenden Präsidialkabinette vor Augen, rät Schmitt am Vorabend der Reichstagswahl vom Juli 1932 in einem Zeitungsbeitrag unentschlossenen Wählern dringend davon ab, ihre Stimme der NSDAP zu geben, und warnt vor der Möglichkeit einer „legalen Revolution“. Die Weimarer Verfassung - die keinerlei Handhabe gegen ihre parlamentarische Selbstaufhebung biete - erlaube es einer Partei, das „Tor der Legalität“, durch das sie eintritt, hinter sich zu schließen und ihre politischen Feinde auf legalem Weg in die Illegalität zu stoßen. Wer vor dieser Gefahr die Augen verschließe, müsse gewahren, daß sich „die Wahrheit rächt“.
Bereits vor der Juliwahl hatte die Regierung Papen zu ihrem verhängnisvollen „Preußenschlag“ ausgeholt. Am 1. August 1932 verteidigt Schmitt in der 'Deutschen Juristen-Zeitung‘ die „Verfassungsmäßigkeit der Bestellung eines Reichskommissars für das Land Preußen“. Daraufhin benennt ihn die Regierung zu ihrem Hauptvertreter in dem für Oktober angesetzten Prozeß „Preußen kontra Reich“ vor dem Leipziger Staatsgerichtshof, den das abgesetzte preußische Kabinett angerufen hatte.
Vor Gericht begründet Schmitt das Vorgehen der Reichsregierung damit, daß allein der plebiszitär legimierte Reichspräsident - nicht aber eine bloß geschäftsführende Regierungspartei - befugt sein könne, bestimmten Parteien in diesem Fall: KPD und NSDAP - die gleiche Chance politischer Machtgewinnung zu verweigern. Andernfalls treibe man die betroffenen politischen Gruppierungen in den offenen Aufstand. Der Prozeß endet mit einem Urteil, daß sich in der Hauptsache die Position der Reichsregierung zu eigen macht und den von ihr in Preußen geschaffenen neuen Status quo bestätigt. Nach dem Verfahren nennt die 'Weltbühne‘ Schmitt erstmals einen „Kronjuristen“ - aber der Präsidialregierung.
Nach dem Scheitern der Schleicherschen Variante von „Preußentum und Sozialismus“, die Schmitt ideologisch unterstützt, muß er am 30. Januar 1933 von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler erfahren. Schmitt sieht sich als Zeuge des „Selbstmords“ der Weimarer Republik. Dennoch will keine rechte Trauer aufkommen, sondern eher Erleichterung. In sein Tagebuch notiert er: „(...) wenigstens eine Entscheidung“. IV
Den sich überstürzenden politischen Ereignissen, die auf die „Machtergreifung“ folgen, entspricht das beschleunigte Tempo, mit dem sich Carl Schmitt in den Dienst dieser einschneidenden Wendung der innerpolitischen Diskussion stellt. Das Anfang März parlamentarisch verabschiedete „Ermächtigungsgesetz“ - das Schmitt in einem Kommentar als die „provisorische Verfassung der Deutschen Revolution“ interpretiert - markiere einen vollständigen Bruch mit der Essenz der Weimarer Verfassung, einen point of no return. Dem Jahr 1933 komme in verfassungsrechtlicher Hinsicht die gleiche strukturelle Bedeutung zu wie den Jahren 1918/19.
Papen gewinnt Schmitt Ende März 1933 für die Mitarbeit an dem „Gesetz über die Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ und dem „Reichsstatthaltergesetz“. Dieser erste Akt manifester Kollaboration mit dem Dritten Reich steht für Schmitt in der Kontinuität seines Engagements im Konflikt „Preußen kontra Reich“. Mit dem „Reichsstatthaltergesetz“ wird Schmitt später sagen - sei der verhängnisvolle politische Partikularismus auf deutschem Boden endgültig überwunden.
Der Eintritt in die „Partei“ am 1. Mai 1933 - zuvor hatte kein geringerer als Martin Heidegger Schmitt brieflich zur aktiven politischen Kollaboration aufgefordert - läutet die Phase der öffentlichen Karriere Schmitts im Maßnahmestaat ein (Ernennung zum Preußischen Staatsrat; Mitgliedschaft in der nationalsozialistischen „Deutschen Rechtsakademie„; schließlich: Ernennung zum „Reichsgruppenwalter der Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes“!). Im Oktober 1933 wird dann sein kompetenter Opportunismus mit dem lang ersehnten Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Berlin belohnt. Schmitt hat den Gipfel seiner akademischen Laufbahn erreicht.
Im Unterschied zu vergleichbaren Vorhaben genuin faschistischer Autoren, die ihre Texte restlos der Matrix völkischer Ideologie unterwerfen, legt Schmitt in seiner Ende 1933 veröffentlichten Schrift „Staat, Bewegung, Volk“ den - natürlich in apologetischer Absicht unternommenen Versuch einer vorläufigen Beschreibung und begrifflichen Systematisierung nationalsozialistischer Herrschaftspraxis vor, der eine faschismustheoretische Auswertung verlohnt.
Die von Schmitt und anderen autoritären Etatisten als bedrohlich empfundenen, vor allem in der SA verbreiteten Hoffnungen auf eine sozialrevolutionäre Radikalisierung der „Bewegung“ („Zweite Revolution„) macht die Nacht der langen Messer vom 30. Juni 1934 jäh zunichte. Am 1. August stellt Schmitt zu den Ereignissen, denen auch Schleicher zum Opfer fällt, lapidar fest: „Der Führer schützt das Recht.“ In einer Situation der „Staatsnotwehr“ bestimme der Führer - als der rechtlich ungebundene „souveräne Diktator“ selbst „Inhalt und Umfang seines Vorgehens“.
Man wird es nicht ohne Ironie betrachten können, daß selbst die vehementeste Affirmation der NS-Politik Schmitt auf die Dauer nicht von immer schärferen Angriffen aus den Reihen der Partei, vor allem von parteizugehörigen Fachkollegen zu schützen vermag. In theoretischer Hinsicht bemängelt die faschistische scientific community der Juristen vor allem Schmitts weitgehenden Verzicht auf eine „rassische“ Fundierung seiner politischen Theorie, die das „Volk“ zu einer apolitischen Restkategorie entwerte und die offizielle Lehre von der Dominanz der Partei über den Staat leugne. Politisch beschuldigt man Schmitt des hemmungslosen Opportunismus.
Alle Beteuerungen stramm antisemitischer Gesinnung - im September 1935 verteidigt Schmitt öffentlich die Nürnberger „Rassegesetzgebung“ - macht die ideologische Vorhut der Partei nur noch mißtrauischer. Im Dezember 1936 - inzwischen hat der SD belastendes Material von einigen hundert Seiten Umfang gegen Schmitt gesammelt - muß der Kronjurist „aus Gesundheitsgründen“ alle parteipolitischen Positionen räumen und auch als Herausgeber der berüchtigten „Deutschen Juristen-Zeitung“ zurücktreten. Nach einem Arrangement Görings - dessen Schutz der „Preußische Staatsrat“ genießt mit Himmler haben die zuletzt öffentlich vorgetragenen Angriffe gegen Schmitt abrupt ein Ende. Von diesem Tag an vermeidet er - seinen Lehrstuhl an der Universität Berlin darf er behalten - jede Äußerung zu Fragen der Innen- oder gar Parteipolitik.
Noch einmal erregt Schmitt die Aufmerksamkeit des Publikums, als er in einem 1939 gehaltenen Vortrag eine diskurstaktisch geschickte Anleihe aus der amerikanischen Völkerrechtsgeschichte - die „Monroe-Doktrin“ - zur Grundlage einer völligen Reorganisation des internationalen Rechts im 'postnationalen Zeitalter‘ macht. Nach Schmitt entwickelt sich nun auch in Europa ein „Großraum“ unter der politischen Hegemonie des neuen deutschen Reiches, das für seine Einflußzone das gleiche Prinzip der Nicht -Intervention durch „raumfremde Mächte“ reklamiere wie die USA und die UdSSR für die von ihnen politisch dominierten Großräume.
1945 schließlich beginnt die Zeit der Abrechung, der erzwungenen und - weitgehend - verweigerten Reflexion auf die „Positionen und Begriffe„, die Schmitts theoretische und ideenpolitische Praxis im Faschismus markiert hatten. Die Frage nach den Gründen für das eigene Engagement - deren Beantwortung ja erst jenseits moralischer Schuldeingeständnisse interessant wird - verfehlt Schmitt in den Verhören, die Robert Kempner in Nürnberg mit dem „Kronjuristen des Dritten Reiches“ führt, durchweg.
Weil keine von Schmitts Publikationen oder Aktivitäten zur Eröffnung eines Verfahrens vor dem Nürnberger Gericht ausreichen, wird Schmitt jedoch bald auf freien Fuß gesetzt. Den Rest seines Lebens - immerhin fast 40 Jahre - verbringt er zurückgezogen in seinem Haus bei Plettenberg.
An dieser Stelle bricht Benderskys Biographie ab: Der schmale Epilog vermag nicht für eine Rekonstruktion jener untergründigen Wirkung zu entschädigen, die Schmitt von seinem Alterssitz aus zu entfalten verstand. Schon bald nahm er seine Publikationstätigkeit wieder auf. Es erschienen eine Reihe hochbrisanter Bücher und Aufsätze - ich erinnere nur an die auch auf der Linken lebhaft rezipierte „Theorie des Partisanen“ -, die unter den veränderten (welt)politischen Bedingungen jene Fragestellungen wiederaufgreifen, die Schmitt in den zwanziger Jahren auf den Weg gebracht hatte.
In diesen ganzen Jahren hat Schmitt einem zweifelhaften Hang zur gezielten Selbstmythologisierung nie widerstanden. So nannte er sein vielbesuchtes Haus in Plettenberg nach dem Ort, an dem Machiavelli lebte, als er von den Medicis fallengelassen und ins Exil gehen mußte: San Casciano.
Joseph W. Bendersky - Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton University Press, 320 Seiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen