piwik no script img

Übler Satz-betr.: "Kalte Kriegerwitwen", taz vom 22.6.88

betr.: „Kalte Kriegerwitwen“, taz vom 22.6.88

Der 'Spiegel‘, das bekannte, oft, aber nicht immer recht habende Hamburger Nachrichtenmagazin, hat „Heldenduselei“ ausgemacht - so jedenfalls deutet der 'Spiegel‘ die Gedenkveranstaltungen zum 40. Jahrestag von Blockade und Luftbrücke.

In einem grün-alternativen Blatt, der taz, der Tageszeitung, stand gestern gar zu lesen, Ernst Reuter - wie kein anderer der Sprecher der West-Berliner in jener Zeit sei - Zitat: „ein blubbernder Demagoge“ gewesen - ein, immer noch Originalton taz: „rechter Widerling, dessen Wirkung auf die Massen man sich heute genau so wenig erklären kann wie die seines hinkefüßigen Vorgängers“ - Ende des Zitats, eines - wie ich ausdrücklich hinzufügen möchte - wirklich üblen Satzes.

Dieselbe taz hat sich verständlicherweise über den Kanzler Kohl erregt, als dieser Gorbatschow und Goebbels in einem Atemzug nannte, und nun bringt sie es tatsächlich fertig, einen Mann wie Reuter, den das Nazi-Regime ins Exil getrieben hat, auf eine Stufe mit dem Propagandaminister der Nazi-Tyrannei zu stellen. Wie erbärmlich gering und wirr muß die historische Kenntnis dessen sein, der so etwas zu Papier bringt? Sowjetische Historiker sind heute durchaus geneigt, die elf Monate währende Blockade der Westsektoren Berlins als einen der folgenschwersten Fehler Stalinscher Außenpolitik zu werten. Gewiß war ein bestimmendes Motiv der Sowjets in jener Zeit, durch den harten Druck auf Berlin West-Berlin - die Westmächte erneut an den Verhandlungstisch zu zwingen und die Bildung eines Westzonen-Staates zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Eine Millionen-Schar von Berlinern aber hat diesen harten Druck tagtäglich gespürt - während endlos langer Stromsperren, wenn nach 18 Uhr kein öffentliches Verkehrsmittel mehr unterwegs war, wenn aus Trockenkartoffeln und Trockenei ein karges Abendessen zu bereiten war, wenn während eines langen, dunklen Blockade-Winters die Wohnungen lausig kalt blieben.

Die übergroße Mehrheit der West-Berliner hat diese Blockade als eine existenzielle Bedrohung empfunden - als erbarmungslosen Versuch, drei Jahre nach dem Ende der Hitler -Diktatur erneut Demokratie und Bürgerfreiheiten zu ersticken. Ernst Reuter hat mit seinen Reden während der Blockade-Zeit dieser Ansicht einer übergroßen Mehrheit der West-Berliner Ausdruck gegeben - Ton und Sprechweise mögen jüngeren Zeitgenossen fremd erscheinen. Der Stil öffentlicher Rede hat sich gewandelt in vier Jahrzehnten; manches, was heute als Sentenz des Kalten Krieges erscheint, hat Menschen damals überzeugt und begeistert - denn für sie war der ihnen aufgezwungene Kalte Krieg keine historische Reminiszens, sondern Alltagserfahrung - rund um die Uhr.

Und das Geräusch der Flugzeuge über ihrer Stadt - das nicht abreißende Motorbrummen jener Luftbrücke, die 440.000 Tonnen Lebensmittel und 950.000 Tonnen Kohle in die bedrängte Stadt transportierte, das war ein Signal, das Menschen hoffen ließ, und als die Blockade vorbei war - im Mai 1949 -, konnte Reuters Stellvertreterin, Louise Schröder, zu Recht und mit Stolz darauf verweisen, daß hier ein Kampf um die demokratischen Rechte und Freiheiten von zwei Millionen Menschen gewaltlos - ohne Schießen, ohne militärische Zusammenstöße - ausgetragen und gewonnen worden wäre.

Manfred Rexin, Kommentar zum 40. Jahrestag des Beginns der Berliner Blockade, 'RIAS 1‘, Mittagsreport, 23.6.88, 12.30 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen