Small is beautiful

■ Das Aufregendste an den Filmfestspielen in Barcelona sind die Pressekonferenzen

Ein ganz normales Festival, nur kleiner, dachte ich. Die Stars werden fehlen, das Prickeln um die schönen Frauen und die Aufregung um den ersten Preis.

Alles richtig. Aber es gibt etwas, was das fast ersetzt: Zeit. Wenn Cannes, Venedig, Berlin sich um die besten Filme streiten, wo sollen dann noch gute Filme für die kleinen Festivals herkommen?

Die paar Top-Regisseure, bei denen ich mir jeden Film ansehe, auch wenn ich sicher bin, diesmal ist es ein Flop, werden sich sicher nicht hierher verirren. Auf die große Überraschung, den Newcomer zu hoffen, bin ich nicht naiv genug. So sitze ich weniger im Kino als bei den Pressekonferenzen. Die dauern lange. In Venedig haben selbst Resnais oder Dustin Hoffman kaum mehr als zwanzig Minuten, und so manche Pressekonferenz wurde schon nach zehn Minuten abgebrochen, weil keine Fragen mehr kamen. Hier in Barcelona sind die Journalisten im Durchschnitt halb so alt wie in Venedig, und entsprechend unterentwickelt ist ihre professionelle Blasiertheit.

So werden sie schlauer und ich - nassauernd - mit ihnen. Jetzt sollen es auch unsere Leser werden. Daniel Taradach zum Beispiel. Er stand auf McCarthys Schwarzer Liste, bekam eine Zeitlang keine Arbeit in Hollywood, gilt als einer der erfolgreichsten Scriptschreiber, war jahrelang Vorsitzender der Writer Union und von 1970 bis 1973 Vorsitzender eben jener Akademie, die den Oscar verleiht. Er hat es damals durchgesetzt, daß Chaplin einen Ehrenoscar bekam. Er hatte, nachdem er seine Kollegen in der Akademie überzeugt hatte schließlich waren Amerikas Frauenverbände und nicht nur die jahrelang gegen Chaplin Sturm gelaufen - erst das kleinere Stück Arbeit hinter sich. Chaplin selbst war der schwierigere Fall: Er wollte nicht kommen, denn er war fest davon überzeugt, daß es bei der Preisverleihung zu Zwischenrufen, wenn nicht gar zu Zwischenfällen kommen würde, er rechnete mit Demonstrationen vor dem Veranstaltungsort, er war sich sicher, nur mit Polizeischutz gegen den reaktionären Mob lebend rein und wieder raus zu können. Aber es kam alles ganz anders. Hollywood feierte Chaplin mit stehenden Ovationen. Ein Triumph für den Mann, der geschworen hatte, nie wieder in die USA zu kommen.

Anekdoten wie diese erzählt einer nur, wenn er die Zeit dafür bekommt. Taradach erzählt über einen Film von Bernhard Wicki, für den er das Script schrieb. Marlon Brando spielte die Hauptrolle. Der Star kam mit einer siebenköpfigen Gang, die jede Szene umschrieb - nicht nur die, in denen er auftrat - und das neue Script dem Regisseur unter die Nase hielt: so, das steht jetzt an. Wicki tat, wie er mußte, und heraus kam, wie Taradach meint, ein „schrecklicher Film“. Es gebe darin eine Szene, so erzählt er, die er nie verstanden habe: Brando steht auf, duchquert das Zimmer, blickt aus dem Fenster, schließt das Fenster wieder und geht zurück an seinen Platz. Wozu das? Man erklärte es ihm: Hinter dem Fenster war eine Tafel, und auf dieser Tafel stand Brandos Text. Ein andermal wurde einer Schauspielerin, die man in der Szene nur von hinten sah, Brandos Text auf die Stirn geschrieben. Kein Wunder, daß er nur Augen für sie hatte.

Anekdoten? Ja, aber sie befriedigen meine Laienneugier mehr als manche Filmtheorie. Eduard Dmytryk zum Beispiel, einer von zehn Hollywoodgrößen, denen der Prozeß gemacht wurde. Auch er ist in Barcelona Gast im Rahmen der Reihe, die den Hollywood-Filmen auf McCarthys Schwarzer Liste gewidmet ist. Die anderen Gäste dieser Reihe, Leute wie Zanussi, nehmen Anstoß an ihm; sie weigern sich, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert. Öffentlich wollte zwar keiner etwas gegen ihn sagen, aber in den sogenannten Privatgesprächen wuchert die Skandalsucht. Für Marcuse war Wittfogel ein CIA-Agent und für jeden aufrechten Kommunisten war Marcuse es selbstverständlich auch. Auf ähnliche Auseinandersetzungen hatte ich in diesen Tagen in Barcelona keinen Appetit. Also Dmytryk. Auf der Pressekonferenz: „Who don'its“, so heißen in Hollywood die Filme, deren Spannung darin besteht, daß man miträt, wer das Verbrechen begangen hat. „Who don'its“ sind Kinderspielzeug. So etwas kann jeder drehen. Schwierig wird es, wenn es um Charaktere geht. Einen Ehekrieg zu filmen, das will gelernt sein. Aber diese Detektivgeschichten. „Wissen Sie, wir haben die damals“ - Dmytryk gilt als einer der US-Meister der Serie Noire - „gedreht, weil sie uns die Möglichkeit gaben, nicht nur diese ewig Champagnerglas schwenkende elegante Welt von Frack und Abendkleid zu zeigen. Die Salonkomödien, die Konversationsstücke, das spielte sich doch immer zwischen Luxusdamen und -herren in Luxusvillen ab. Die „Who don'its“ erlaubten uns, die Slums zu zeigen, die kleinen Leute, die outdrops. Hätten wir einem Produzenten gesagt: Ich will einen Film über die armen Schwarzen drehen, der hätte mich rausgeschmissen. Aber als Detektivgeschichte ging das.“

Ein Kapitel aus der Sozialgeschichte des Kinos, erzählt von einem 80jährigen Mann, der aussieht wie Ende 50. So hatte ich das nie gesehen.

Arno Widmann