Mißbrauchte Kinder als Spielball

Die Ergebnisse des Untersuchungsberichtes zum sogenannten „Cleveland-Skandal“ schlagen in Großbritannien hohe Wellen / Keine Ursachenermittlung des sexuellen Kindesmißbrauchs  ■  Aus London Rolf Paasch

Übereifrige Kinderärzte, überforderte Sozialarbeiter, ein unfähiges und überlastetes Krankenhausmanagement sowie eine völlig unverantwortlich agierende Polizei haben im Skandal um 121 sexuell mißbrauchte Kinder in der nordenglischen Stadt Cleveland zum Zusammenbruch des Institutionensystems geführt, dessen Aufgabe eigentlich die Behandlung von Fällen sexuellen Kindesmißbrauchs sein sollte. Mit diesen am Mittwoch vorgestellten Ergebnissen des 320seitigen gerichtlichen Untersuchungsberichts über den sogenannten „Cleveland-Skandal“ hat die Diskussion über das Problem sexuellen Kindesmißbrauchs in Großbritannien einen neuen Höhepunkt erreicht.

Seitdem zwei Kinderärzte in Cleveland im Frühjahr 1987 binnen weniger Monate 121 Fälle sexuellen Mißbrauchs von Kindern diagnostizierten, ist das jahrzehntelange Tabu-Thema in der Öffentlichkeit zum bevorzugten Diskussionsthema avanciert. Während die großen Londoner Tageszeitungen die Ergebnisse des Untersuchungsberichtes seitenlang zitierten, hatte auch die Regierung Thatcher bereits am Mittwoch im Unterhaus den Eindruck zu erwecken versucht, man werde mit raschen Maßnahmen zur Verbesserung des Kinderschutzes und der Ausbildung von Ärzten und Sozialarbeitern dafür sorgen, daß sich „Cleveland nicht mehr wiederholen kann“, wie Sozialminister Fowler vor dem Parlament ausdrückte.

Die Berichterstattung in den Medien wird seit Wochen von dramatischen Erfahrungsberichten der betroffenen Eltern geprägt, denen die Sozialbehörden nach oft umstrittenen ärztlichen Diagnosen die Kinder weggenommen hatten. Nach zahlreichen von den Eltern angestrengten Gerichtsverfahren gegen die Sozialbehörden befinden sich mittlerweile 98 der 121 sexuell mißbrauchten Kinder wieder zu Hause. In wievielen Fällen eine wirkliche Fehldiagnose vorlag, läßt sich kaum feststellen. Sowohl in Cleveland selber als auch in der Berichterstattung über den Skandal kam es häufig zu Konflikten zwischen denen, die das Ausmaß des Kindesmißbrauchs - oft mit taktischem Ungeschick und kontraproduktivem Übereifer - darlegen wollten, und denen, die von der Dimension des Problems lieber nichts wissen wollten. Leidtragende dieser Frontstellung, so konstatiert der Untersuchungsbericht, waren immer die Kinder. Ob die monatelange Diskussion des Themas allerdings zu einem sinnvolleren Umgang mit dem Phänomen des sexuellen Mißbrauchs führen wird, muß eher bezweifelt werden. Denn eine Gruppe kommt in der gegenwärtigen Diskussion überhaupt nicht vor: die der Täter.