Roskilde 1988

■ Unser Beobachter behauptet, dagewesen zu sein

Irgendetwas drückt auf mein Auge. Sicher wieder der Fuß des Fotografen Owsnitzki, der sich im Zelt prinzipiell falsch herum hinlegt. Entschlossen packe ich den Eindringling. Es knirscht und ächzt. Füße ächzen nicht. Zwei Augenlider mühen sich einen Millimeter nach oben und verwundert starre ich auf meine linke Hand und einen Telefonhörer. Das gehört nicht hierher. Mit halboffenen Augen träume ich weiter von einer riesigen Flasche Orangensaft und versuche den Telefonhörer zu erwürgen. Der wehrt sich statthaft und schließlich fallen einige Worte aus ihm heraus.

“ ... kannst du dich noch an die Jungs mit den langen Haaren erinnern? Ich habe hier vier Filme und kriege überhaupt nicht klar, wer das gewesen sein soll.“

Das ist der Fotograf. Wieso telefoniert er, statt, wie sonst, nach seinen Kameras zu suchen, weil er glaubt, er hätte sie betrunken irgendwo liegengelassen.

“ ... wir müssen morgen schon den Bericht abgeben!“

Ach ja. Der Bericht. Die Langhaarigen. Roskilde ... Ich bin wieder zuhause, und der miefige Geruch stammt von einem qualmenden Häufchen Socken in der Ecke. Jetzt müssen wir uns aber ganz doll erinnern.

Die Langhaarigen, das waren bestimmt Amerikaner. Death Angel vielleicht, eine Band, bei der der Name schon alles sagt. Das waren die mit dem mimosigen Gitarristen, der nach eineinhalb Stunden infernalischen Lärms über die gemeinsamen Toiletten moserte ... „I don't like the idea of co -educational bathrooms. I think, this is going too far, definetively.“ ... zimperliche Hardrocker mit japanischen Gesichtszügen, das glaubt wieder keiner ...

International war es auf jeden Fall („Letzte Nacht hat wieder dieser Schwede an unser Zelt gepisst!“ „Nein, das waren die Norweger ...“), und da tauchte plötzlich eine Delegation von ehemaligen DDRlern auf, die - als Mauerspringer von Hause aus gut trainiert - tausend Wege ersonnen, kostenfrei auf das Festivalgelände zu gelangen. Beim dritten Versuch landeten sie ausgerechnet im abgegrenzten Presse-Areal und man bedeutete ihnen freundlich, doch wieder zu verschwinden. Was natürlich nicht im Interesse der Ostler lag, und so einigte man sich augenzwinkernd auf einen Dreistigkeits-Bonus und sie durften weiter mithören.

Im zerknitterten Programmheft steht hinter Royal Crescent Mob (USA) „ganz toll“ - ich würde Stein und Bein schwören, die noch nie gesehen zu haben, aber es ist meine Schrift. Bei Sting ist vermerkt, „jemand hat vergessen, das Radio auszumachen“ und neben den dänischen Overlords drängen sich vier Buchstaben, die behaupten „gutt“ ... Vergiß das Programmheft ...

Überhaupt erinnere ich mich nur daran, wie ein Fremdkörper zwischen lauter Amöben herumgeschwommen zu sein. Die Amöben setzten sich um alkoholgefüllte Gefäße herum auf den Boden, während die andere Hälfte meines Mikrokosmos damit beschäftigt war zu knipsen und ich mich vor der Bühne mit Gartenschläuchen naßspritzen lassen mußte, um nicht zu kollabieren. Als ob es dazu Veranlassung gegeben hätte ...

Diese australischen Bands zum Beispiel, gleich drei. Ich gehe jede Wette ein, daß da vor einiger Zeit mal ein japanisches Schiff gestrandet ist, vollbeladen mit Gitarren und Verzerrer-Kisten, und die braungebrannten Herumlungerer haben es geplündert und wir müssen jetzt die Folgen dieser Katastrophe in Form des australischen Schweinerock-Revivals ertragen, während die Musikkritiker die Zukunft des Rock 'n‘ Roll herbeibeten ...

Leo Bassi war ja der eigentliche Star des Festivals, dieser italienische Egozentrik-Performer, der sich in einer Sänfte herumtragen ließ und abwechselnd den europäischen Gedanken und die Anarchie in großem Maßstab propagierte und am letzten Tag die größte Tortenschlacht der Welt inszenierte. Unglücklicherweise erwischten dabei auch den Fotografen Owsnitzki mehrere Rasierschaum-Torten und er stank den ganzen Heimweg lang wie ein explodiertes Drogeriegeschäft ... Schade eigentlich, daß Bassi die Schnarchsäcke von Toto nicht standrechtlich erschossen hat.

Richtig gut waren nur Picnic - ein dänisches Forschungszentrum für Musikgeschichte und Energie pur.

Aber das sind ja alles nur so Geschichten, da kann man ja keinen Artikel draus machen ... Das Telefon krächzt wieder.

„Bist du noch dran?“

„Ja ... hmmm ... ich glaube das wird diesmal nichts ... zu viel ...“, höre ich mich sagen. Klick. Owsnitzkis Telefon ist umgefallen. Hoffentlich ohne ihn.

Ich schließe die Augen und träume weiter von einer riesigen Flasche Orangensaft, die einige Schritte weiter im Kühlschrank steht, ziemlich weit weg.

Ralf Hünninghaus

(Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung von Eyrun, Adda, den Mitarbeitern der Kieler Rundschau, Erik, Regenten-Pils und Susanne, die dankenswerter Weise alle Interview-Termine verpatzte.)