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MÖRDER

■ Flora Rheta Schreiber: "Der Mörder - Ein Tatsachenbericht"

Manche Bücher kann ich nicht weiterlesen. Nicht weil sie langweilig, sondern weil sie zu spannend sind. So sehr regen sie mich auf, daß ich die Lektüre abbreche. Freilich nur, um sie gleich darauf wieder aufzunehmen. Flora Rheta Schreibers erstes Buch, „Sybil“, die Analyse einer Schizophren, gehörte zu diesem Genre. Ihr zweites - „Der Mörder“ - ist vom gleichen Kaliber. Joe Kallinger, Schuhmacher, ein guter, sehr angesehener Schuhmacher mit eigenem Geschäft, sechs Kindern und zwei Häusern, wird eines Tages angeklagt, eine Frau in einer Blutorgie von Messerstichen ermordet und ein paar andere verletzt und vestümmelt zu haben. Flora Rheta Schreiber ist Psychiaterin und Professorin am John Jay College of Criminal Justice in New York. Sie erzählt Joe Kallingers Geschichte anders herum. Nicht als Detektiv, der nach und nach alles aufdeckt, sondern sie erzählt Kallingers Lebensgeschichte, sodaß wir uns wundern, wie wenig er gemacht hat, wie harmlos die paar Toten um ihn herum sind im Vergleich zu dem, was er phantasierte. Die Menschheit wollte er ausrotten. Jeden Penis abschneiden, jede Vagina verheeren. Berge blutender Geschlechtsteile halluzinierte er und einen Gott dazu, der ihm das alles zu tun befahl. Daß er den einen seiner Söhne dazu anstiftete, den anderen zu ermorden, daß er diesen Sohn als besseren Mörder, besseren Vollstrecker des himmlischen Auftrags betrachtete, alles Monstruositäten, wenn man sie so dahersagt. Die beklemmende Faszination des Buches rührt freilich nicht nur aus der detailgetreuen Beschreibung der wüsten Phantasien des Joe Kallinger, sondern auch daher, daß Flora Schreiber es versteht, ihn so zu schildern, daß wir uns identifizieren mit ihm, daß er uns nicht fremd bleibt. Um den Preis, daß wir uns fremder dabei werden. Ihr gelingt es oder gelang es jedenfalls bei mir, daß ich den Joe Kallinger nicht in einen harmlos normalen Tazredakteur mit ein paar - mörderischen Macken verwandelte, sondern daß ich langsam das Gefühl bekam, Joe Kallinger zu ähneln. Sammele ich nicht Zeitungsausschnitte und Bücher wie er Fahrkarten und Münzen? Wie sicher ist man in seinem Ich? Kann man sich einrichten darin oder wird man eines Tages herausgeschmissen? Joe Kallinger war als Kind so gestört, daß die Umgebung es merkte. Dann verschwand „es“. Fünfzehn Jahre später war „es“ wieder da. Dieses „es“ hatte eine Stimme. Er hatte sie als Kind gehört, dann lange nicht, dann war sie wieder da. Diese Stimme befahl ihm zu töten. Eine verrückte Geschichte. Aber offensichtlich nicht nur die eines Verrückten.

Flora Rheta Schreiber, Der Mörder - Ein Tatsachenbericht, Goldmann-Verlag, 480 Seiten, 16,80 DM

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