: Sowjets setzen auf Zeitgewinn
Sowjetische Medien schweigen sich über Entscheidungen zu Nagorny Karabach aus / Verzögerungstaktik zur Vorbereitung auf neue Unruhen vermutet / Unterschiedliche Meldungen über Lage im umstrittenen Gebiet / Truppen in Eriwan verstärkt ■ Von Roland Hofwiler
Berlin (taz) - Das „Neue Deutschland“ (ND) bringt die Nachricht, die der „Prawda“ noch zu heiß ist: Das zwischen den Sowjetrepubliken Aserbeidjan und Armenien umstrittende Gebiet Nagorny Karabach bleibt bei Aserbeidjan. Dies war gestern in der DDR-Presse ebenso groß nachzulesen wie in den polnischen und ungarischen Zeitungen. Dagegen schwieg selbst noch gestern nachmittag der Moskauer Rundfunk zu der Entscheidung des Obersten Sowjet vom Vortage. Hinter der Verzöerungstaktik vermutet man den Versuch der kaukasischen Parteiführungen, sich auf mögliche neue Unruhen vorzubereiten. Denn laut „ND“ faßte der Oberste Sowjet der UdSSR den Verbleib der Unruheregion bei Aserbeidjan einstimmig, d.h. mit der Zustimmung des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet Armeniens, Grant Woskanjan, und des 1.Sekretärs des Gebietskomitees Nagorny Karabach, Genrich Pogosjan. Noch vor wenigen Tagen hatten Woskanjan und Pogosjan die Abtrennung von Karabach gefordert. Wie sie nun ihren „Umschwung“ ihren eigenen Parteigenossen in der Heimat erklären wollen, ist vorerst unklar.
Unklar bleibt auch, wie der Oberste Sowjet, der eine „wirkliche Autonomie“ der Region beschlossen hat, diese umsetzen will. Nach der Verfassung sind Republiken, Halbrepubliken und Provinzen innerhalb der Vielvölkerföderation vorgesehen, das Wort „Autonomie“ bzw. „autonomer Status“ kommt darin nicht vor. Sollte Karabach einen autonomen Status erhalten, müßten zuerst Teile der Sowjetverfassung geändert werden. Ob die armenische Bevölkerung solche Entscheidungen von oben geduldig abwarten wird, ist fraglich.
Allem Anschein nach bereitet sich Moskau auf eine Kraftprobe mit den Armeniern vor. Nach telefonischen Informationen aus Eri'zt'wan sind die Truppen in der 1,1 Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Armeniens am Montag auf schätzungsweise 200.000 Mann verstärkt worden. Ein ebenfalls telefonisch angesprochener Beamter im armenischen Innenministerium sagte aber, es patrouillierten keine Soldaten in den Straßen, und die Werktätigen seien alle zur Arbeit gegangen.
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