: Radikalisierung in Armenien befürchtet
■ Generalstaatsanwalt droht mit Ausgangssperre / Mit 24stündiger Verspätung informierte das Fernsehen über die Beschlüsse des Obersten Sowjet / Angeblich erste Forderungen nach Loslösung Armeniens von der UdSSR / Wieder demonstrierten Hunderttausende in Eriwan
Moskau (afp) - Die führenden Köpfe der armenischen Protestbewegung befürchten nach der Weigerung des Obersten Sowjet der UdSSR, die mehrheitlich von Armeniern bewohnte autonome Region Nagorny-(Berg)-Karabach aus der Sowjetrepublik Aserbeidjan auszugliedern, eine Radikalisierung des armenischen Nationalismus.
Das offiziell aufgelöste Karabach-Komitee ist gegen eine neue Streikwelle, da die Sowjetbehörden dies als Vorwand für eine Repressionswelle nutzen könnten. Generalstaatsanwalt Alexander Sucharow hatte am Dienstag mit einer Ausgangssperre gedroht, sollten die Kundgebungen und Streiks weitergehen. Nach Ansicht des armenischen Nationalisten Ara Stepanian würde eine Ausgangssperre Massenkundgebungen jedoch nicht verhindern können.
In Eriwan hatten sich am Dienstag abend mehrere hunderttausend Menschen versammelt. Der erste Parteisekretär Armeniens, Suren Arutiunian, und der Präsident des Republiksowjets, Grant Woskanian, wurden von der Menge mit Pfiffen daran gehindert, das Wort zu ergreifen. Die Kundgebung löste sich nach einer Stunde friedlich auf, um vom Fernsehen mit 24stündiger Verspätung ausgestrahlte Informationen über den Präsidiumsbeschluß zum Status Karabachs zu verfolgen. Am Mittwoch abend sollte eine neue Massenversammlung über weitere Aktionen entscheiden. Der am 23.Mai begonnene Generalstreik in Stepanakert ging weiter.
Bei den Kundgebungen sind bereits Stimmen aufgetaucht, die die Loslösung Armeniens von der UdSSR fordern. Die sowjetische Verfassung gesteht den Unionsrepubliken im Artikel 72 formal das Recht zu, sich von der UdSSR zu trennen.
Das sowjetische Fernsehen hatte am Dienstag abend mit 24stündiger Verspätung lebhafte Debatten armenischer und aserbeidjanischer Vertreter mit Parteichef Gorbatschow übertragen. In einer von der Nachrichtenagentur TASS verbreiteten Rede Gorbatschows vor dem Präsidium hatte der Parteichef die „extremistischen Aktivitäten“ in Armenien und Aserbeidjan kritisiert. Die Lage sei gegenwärtig so kritisch, daß „sie eine Bedrohung für das Leben der Einwohner darstellt“.
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