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Wolfgang DressenDie Identität der Deutschen

■ Von der Sehnsucht nach Normalität

Als in der DDR kürzlich verhaftet wurde, standen die Politiker im Westen bereit: Sie beschwichtigten. Die Nachrichtensprecher im westdeutschen Fernsehen bezeichneten die folgenden Abschiebungen als Freilassungen. Eine Ausstellung mit Zeichnungen von Beuys kann in der DDR von dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, der Beuys entlassen wollte, eröffnet werden, obwohl Beuys zu Lebzeiten nicht in die DDR durfte. Gleichzeitig findet in Berlin (West) eine umfassende Beuys-Ausstellung statt, mitveranstaltet von dem Immobilienhändler Marx. Während Schriftsteller in der DDR weitere Repressalien befürchten, wird die DDR auf der Leipziger Buchmesse von westlichen Korrespondenten gelobt – für die Veröffentlichungen junger Autoren. Lange ist es her, daß ein in der DDR veröffentlichtes „Braunbuch“ über die Nazivergangenheit westdeutscher Politiker auf der Frankfurter Buchmesse beschlagnahmt wurde. Kaum möglich heute. Denn solche Bücher sind in der DDR fast nicht mehr zu finden.

Solche deutsch-deutschen Normalisierungen könnten durch Fragen nach der Vergangenheit und ihre Gegenwart gestört werden. In der Erinnerung läge der Widerspruch zur deutsch –deutschen Normalität. Nach den ermordeten Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren, wird in der DDR immer noch nicht gefragt. Der Staat legitimiert sich durch einen Antifaschismus, dessen braune Flecken versteckt werden, so im Fall des früheren Ordinarius für Anatomie in Jena, Hermann Voß, in der DDR zum „hervorragenden Wissenschaftler des Volkes“ ernannt, immer noch die Autorität für Anatomie, während des Krieges Lehrer an der „Reichsuniversität Posen“. Er sezierte die Leichen von ermordeten Polen und Juden, und seine Vergangenheit war in der DDR bekannt.1 Erst recht wird eine andere Frage verdrängt: Welche Folgen der Sozialisation in der Nazizeit überdauern, von der Disziplin über Arbeitsethos bis zum Mißtrauen gegen jede Spontaneität.

In der Bundesrepublik tut man sich da schwerer. Spätestens die Studentenbewegung hat an die deutsche Kontinuität über '45 hinaus erinnert, und dies wurde nicht verziehen. Ernst Nolte berichtet noch heute erschreckt über die Gesichter der protestierenden Studenten und kann sich wohl verständnisvoll einfühlen – in die Angst der deutschen Bourgeoisie vor der russischen Revolution. Ernst Nolte war im „Historikerstreit“ aber zu forsch aufgetreten, die Distanzierungen häuften sich. Nolte hatte zu deutlich die Wahrheit der Macht beschrieben. Bei ihm ist nachzulesen, wie die Bekämpfung der Revolution zu den Nazis führte, und wie bei den Nazis und den Stalinisten jedes „Andere“ vernichtet wurde, um die Identität des produktiven Volkskörpers zu erreichen. Bei dem Historiker Nolte selber wird allzu deutlich, daß solche Sistierung von Geschichte aus Angst vor gesellschaftlicher Änderung mit einem Verständnis selbst für Massenmorde einhergeht: Lieber soll gar nichts sein, als daß noch ein Rest des „Anderen“, die Möglichkeit eines Widerspruchs übrig bleiben. Nolte selber zog solche Folgerung nicht, aber er zeigt ein eher mitfühlendes Verständnis. Solche Ehrlichkeit stört die gegen die Vergangenheit zu erreichende Normalität.

Der Vorsitzende der westdeutschen Historikerzunft, der Althistoriker Christian Meier, argumentiert da in seiner 1987 erschienenen Schrift „40 Jahre nach Auschwitz“ geschickter. Der Althistoriker hatte sich bereits früher das Instrumentarium der Normalisierung erarbeitet. In seinem zuerst 1978 (dann 1980 überarbeitet in einem Sammelband) erschienenen Aufsatz „Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen“ hat Christian Meier gezeigt, wie ein innerer Frieden zu erreichen sei, der Herrschaft stabilsiert. Seinen Aufsatz widmete er Carl Schmitt. Im Vorwort zu dem Sammelband verweist Meier auf ihn, der den Begriff des Politischen für die Gegenwart wiederentdeckt habe.

Meier zitiert zustimmend Carl Schmitt aus einer Schrift des Jahres 1940: Die „politische Einzheit“ ist „höchste Einheit... weil sie entscheidet und innerhalb ihrer selbst alle anderen gegensätzlichen Gruppierungen daran hindern kann, sich zur extremen Feindschaft (d.h. bis zum Bürgerkrieg) zu dissoziieren“2.

Das war allerdings im Zweiten Weltkrieg eine Furcht der Nazis: Wie kann ein November 1918 unter Kriegsbedingungen verhindert werden? Das hat Ernst Nolte richtig gesehen, Christian Meier überträgt dieses Ziel auf die Gegenwart: „Hier kann man zustimmen“, so sein kurzer Kommentar zu dem Satz Carl Schmitts. Vorschnell wäre es, diese Bestimmung des „Politischen“ zu kritisieren, sie ist historisch begründet und durch Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ gegen die konfessionellen Bürgerkriege eingesetzt worden, aber eben bei ihm auch, um über diesen Frieden Macht zu legitimieren. Carl Schmitt hat in seinem „Leviathan“ 1938 daran angeknüft. Gerade nachdem so das „Politische“ im Nationalsozialismus „diskreditiert wurde“, muß es gerettet werden, um über dieses „Politische“ das Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen einzuschränken.

In der von Christian Meier analysierten „Orestie“ des Aischylos kämpft Apollo mit den Erinnyen, die männliche Macht mit den weiblichen Rachegeistern. Gegen diese Frauen (und darüber, daß sie eingeordnet werden) wird das Recht konstituiert, die Institutionen sichern einen inneren Frieden jenseits der Erinnerung, an der die Erinnyen unerbittlich festhalten, sie wollen den Muttermord rächen. Gesiegt hat diese Ordnung mit Hilfe von Athene, der Kopfgeburt (aus dem Haupt des männlichen Gottes Zeus), die weibliche Fruchtbarkeit nicht mehr nötig hat. Nachdem die Erinnyen selber institutionalisiert sind (die „Wohlgesinnten“, die jetzt die innnere Ordnung hüten), kann die innere Feindschaft nach außen verlagert werden: Athene führt die Griechen zum Sieg. Ein, darin ist Christian Meier zuzustimmen, höchst aktuelles Stück. In Athen drohte zur Zeit der Entstehung der „Orestie“, wie im Deutschland der zwanziger Jahre, der Bürgerkrieg. Christian Meier: „So kann es kaum ein Zufall sein, daß für Aischylos bei seiner 'Analyse' dieselben Kategorien wichtig wurden wie für Carl Schmitt angesichts der Bedrohung der neuzeitlichen Staatlichkeit.“3

Die „Orestie“ wurde 1980 von der Berliner „Schaubühne“ wiederaufgeführt. Das Theater, das einen seiner ersten Erfolge mit der „Optimistischen Tragödie“ aus dem russischen Bürgerkrieg gefeiert hatte, inszenierte die „Orestie“ jetzt zustimmend und aktualisierend, bis zu den Richtern im schwarzen Anzug. Die Aufführung wurde von Christian Meier ausdrücklich gelobt. (Ebenso von linken Theaterkritikern. Ein Protest von Frauen gegen diese Kopfgeburt Athene, in dem die Aktualität solcher Machtsetzung begriffen wurde, konnte in der taz nicht gedruckt werden.)

Im November 1986 veröffentlichte Christian Meier in der 'FAZ' einen Aufsatz zum Historikerstreit. Er versuchte Ausgewogenheit, aber seine Ziele wurden doch deutlich. Wohlwollend sieht er Hillgrubers Versuch, „den Verteidigern der Front in Ostpreußen... Respekt“ zu verschaffen.4 Nur Hillgruber sei dabei ungeschickt vorgegangen. Meier empfiehlt einen „gelegentlichen Gebrauch des Konjunktivs“. Scharf wendet er sich allerdings gegen Habermas' „Verfassungspatriotismus“. Dagegen stellt er, „daß allmählich eine nationale Identität... bei uns heranwächst“. Wesentlich für uns soll dieses „Deutsche“ sein. Warum? Damit nicht bestimmte „Lebensformen“ entscheidend sind. Damit Auschwitz nicht „zur Sache bestimmter kontinuierlicher Strukturen und Mentalitäten gemacht“ und auf diese Weise „in unsere Gesellschaft hineingeholt“ wird. Die Erinnerung soll dabei nicht verdrängt, aber sie soll gleichsam gezähmt werden. Der Althistoriker will eine Katharsis erreichen, eine Reinigung von unliebsamen Gefühlen. Gerade „durch Erregung von Mitleid und Furcht“ soll „die Katharsis solcher Affekte bewirkt“ werden (Aristoteles, Poetik). Deshalb kritsiert Meier auch die Vergleiche von Auschwitz mit anderen Massenmorden der Neuzeit, Meier besteht auf der Einzigartigkeit von Auschwitz. Aber nicht, weil die Möglichkeit eines solchen Zivilisationsbruches alles verdrängt hat, die Vergengenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Für Meier muß die Einzigartigkeit betont werden, um an die Vergangenheit wieder anknüpfen zu können. An Auschwutz muß erinnert werden, „Mitleid und Furcht“ gegenüber dem Massenmord sind notwendig, gegenüber einem so ungeheuerlichen und einzigartigen Massenmord, daß er, so hofft Meuer, von der Vergangenheit und der Gegeghnwart abgespalten werden kann. Gerade solche Erinnerung könnte nationale Identität und inneren Frieden retten.

Zusammengefaßt hat Christian Meier seinen Versuch, Normalität noch in der Erinnerung zu bewahren, in seinem Buch „40 Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute“. Eindeutig kritisiert er Nolte, bezeichnet den Holocaust als das „Ausnahmsartige“ – eine geschickte Formulierung, die den Massenmord aus der Geschichte löst. Und er fährt fort, selbst die Zeit des Nationalsozialismus von Auschwitz abspaltend: „Soll nun alles, was die Deutschen in jenen Jahren taten, nurmehr unter dem Gesichtspunkt des Holocaust erscheinen?“5

Meier beantwortet diese Frage mit einem vehementen Nein: „Aber wird damit nicht die Geschichte eines ganzen Volkes während zwölf Jahren – und in gewissem Sinne auch während einer langen 'Vorgeschichte' – unverhältnismäßig verdunkelt?“6 Normalität muß in der Vergangenheit für heute gerettet werden.

Auschwitz wird als schwere Schuld anerkannt, hier beschönigt Meier nichts, schon aus taktischen Gründen. Denn, wie Meier 1986 in der 'FAZ' schrieb: „Wir sind weder eine Großmacht, die sich dergleichen nicht zu sagen lassen braucht, noch arm, so daß es nicht auch Interessen gäbe, uns daran zu erinnern... Aber eben weil dem so ist, gibt es davor so leicht kein Entkommen. Und dann ist es, um es einmal taktisch zu nehmen, viel besser, wir wissen und sagen, wie es ist, als daß wir es uns immer wieder sagen lassen müssen.“7

Was angegriffen, was verteidigt wird, macht Meier in seinem Buch deutlich: Mit Hermann Lübbe verteidigt er die Wiedereinstellung der sogenannten „Mitläufer“ nach dem Krieg, gegen die Studentenbewegung kritisiert er aber einen Antifaschismus, der darauf ziele, „bürgerlich deutsche Gesinnung, Lebensführung und Gesellschaftsordnung (...) allgemein in Zweifel zu ziehen“. Da fand sich gleichsam jeder Offizier, jeder Soldat unter Rechtfertigungszwang, weil er überhaupt mitmarschiert war.“8

Gesinnung, Lebensführung und Gesellschaftsordnung, die bürgerlich und deutsch sind, sie gilt es zu retten. Die Institutionen eines inneren Friedens, eine Machtordnung, die sich durch Geschichte legitimiert, trotz Auschwitz. Dazu muß noch innerhalb der Nazizeit Auschwitz zu einem gleichsam festen Planeten gemacht werden, als ob es keine Straßen, Züge, Gesetze, Enteignungen, keine Nachbarn, keine Alltäglichkeit gegeben habe, durch die Auschwitz erst möglich wurde. Doch das gab es alles auch für Christian Meier, aber in jeder einzelnen Handlung muß wieder unterschieden werden – die Normalität und das Grauen. Meier verteidigt eine Schizophrenie bis ins Detail. Nur über diese Schizophrenie ist eine bruchlose Identität möglich. Meier fordert: „Identitfikation mit den Deutschen der NS-Zeit“9. Dabei verharmlost Meier den Holocaust in keiner Weise, aber die Kontinuität bürgerlichen Lebens wird in der Vergangenheit für die Gegenwart gerettet. Die „jüngeren Generationen“ sollen „an Eltern und Großeltern studieren (...), daß nicht jede Art, sich mit dem Leben zu arrangieren, verwerflich ist. (...) Mancher Maßlosigkeit und manchem Rigorismus wird damit entgegengewirkt“. Denn diese „schwächen alles konservative Denken bis heute...“10.

Es soll nicht gefragt werden, ob nicht gerade das Arrangieren des deutschen Bürgertums für die deutsche Geschichte der letzten hundert Jahre mitverantwortlich ist, dies soll selbst nicht für die zwölf Jahre der Nazizeit gefragt werden. Es waren immer die „anderen“, auch in den einzelnen Deutschen selbst, das war nach 1945 „als nationalsozialistisch auszusondern“11. Der Sprachgebrauch verrät ein andauerndes Ziel: Aussonderung des „anderen“, um sich selbst zu retten. Dieses „andere“ war in der Nazizeit jüdisch, jetzt ist es nazistisch, es war auch mal kommunistisch, das kann wechseln. Die Funktion dieser Identität besteht gerade darin, daß jeweils „andere“ abspalten zu können. Eins bleibt: Die Identität wird stabilisiert durch das Adjektiv „deutsch“. Die Aufgabe der Nation bei Christian Meier: „Die Identität ihrer Zugehörigen gerade in der Not zu stabilisieren.“12 1918/19 war dies nur unter dem Einsatz konterrevolutionärer Truppen gelungen, 1945 blieb die Identität gewahrt, zunächst durch die nazistische Volksgemeinschaft, dann durch die Angrenzung vom Nazismus. Eine weitere Eigenschaft soll in der Identität bewahrt bleiben: bürgerlich. Hier hilft die Katharsis, gerade das Nichtvergessen: „Um gleichsam das Ungeheuerliche solange mit Verstand, mit allen Sinnen und mit dem Herzen anzuschauen, bis es dasjenige wieder aus seiner Globalität freigibt, was verständlich, was verzeihlich, was vielleicht gar liebenswert, was zwar zeitweise in Dienst genommen, aber deswegen noch nicht desavouiert ist: eben vieles von dem, was uns aus der früheren deutschen Geschichte überkommen ist, samt dem, was unsere Eltern und Großeltern zumeist gewesen sind.“13

Auch die bürgerlichen Tugenden, die bürgerliche Lebensweise gehören zu den Opfern, sie wurden mißbraucht. die Nazis verflüchtigen sich wieder in ein „anderes“. Und aus solcher Abspaltung kann der ungeheuerliche Satz gefolgert werden: „Trotzdem ist das damalige Verhalten der weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes (. . .) wohl kaum wirklich zu verurteilen.“14

Die Funktion eines solchen Satzes auch für die Gegenwart folgt kurz darauf: „Was eine Handlung über ihren unmittelbaren Bereich hinaus bewirkt, ist ja abhängig vom Kontext, in dem sie erfolgt (. . .) Wie oft kommen die Nebenfolgen gar nicht in unsern Sinn (. . .) Und wieweit und in welchen Fällen können wir für die Nebenfolgen (. . .) verantwortlich gemacht werden?“15 „Wann wird von einem Lokomotivführer erwartet, daß er Rechenschaft darüber gibt, was für eine Fracht er transportiert?“16

Darum geht es: Wer jetzt und nach den Erfahrungen der NS –Zeit sich auch für die Nebenfolgen seiner Handlungen verantwortlich fühlt (etwa ein Lokomotivführer), die außerhalb seines Verantwortungsbereiches liegen, der gefährdete eine institutionalisierte Macht, die gerade auf Vereinzelung der Handlungen und Verantwortlichkeiten beruht. So aber fühlten Schuld nur die Opfer, die dem Tod gerade noch entkamen. Adorno hat die „drastische Schuld des Verschonten“ beschrieben, die bis in ihre Träume die ehemaligen Häftlinge verfolgt.17 Wenn dagegen allgemein anerkannt würde, daß „Ausschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen hätte“, so Adorno, dann müßte Meier nicht nur für die Vergangenheit befürchten, wie er schrieb: „Es wäre dann dem ganzen staatlichen Leben die Grundlage entzogen gewesen.“18 Solch eine ungeheure Gefährdung von Normalität aber, so meint Christian Meier, sei von vornherein, ohne Kommentar, auch in der Nazizeit, abzuweisen.

Nach solcher inneren Friedensstiftung kann der Althistoriker, getreu dem Vorbild der Athene, am Schluß seines Buches auch wieder an äußere aktuelle Macht denken. Er fragt, „ob nicht auch ein besseres Verhältnis zur staatlichen und nationalen Komponente, unter anderem zur außenpolitischen und militärischen Seite unseres Gemeinwesens“ nötig wären19, „universalistische Prinzipien“ würden da nicht genügen. Den Kosmopolitismus kritisieren auch die Nazis. Es reicht nicht, so Meier, daß wir „nur akzidentell auch Deutschland“ sind. Sollen wir es wesentlich sein? Das taktische Gespür verläßt den Althistoriker zum Schluß, die machtpolitische Funktion der Normalität, die er retten will, wird allzu deutlich.

Wie wohl zur Zeit kein anderer Historiker bietet Christian Meier die fortgeschrittensten Versuche nationaler Identitätsstiftung an, er bringt das Kunststück fertig, die dauernde Erinnerung an Auschwitz anzumahnen und zugleich deutsche Normalität zu retten. Während der 750-Jahr-Feier 1987 wurden in Ost und West solche Normalisierungen auf die ganze Geschichte der Stadt ausgedehnt.

Die große historische Ausstellung „Berlin, Berlin“ im Martin-Gropius-Bau trat mit einem umfassenden Anspruch auf: Die Darstellung der Geschichte einer Stadt, deren Identität zweimal angegriffen worden sei. Einmal im Nationalsozialismus, die Hauptstadt des Dritten Reiches als Opfer, vorher durch „die Revolution“. Der wissenschaftliche Leiter der Ausstellung, der Historiker Reinhard Rürup, schreibt im Vorwort zum Katalog von der Möglichkeit einer „gesicherten demokratischen Ordnung“ nach dem Ersten Weltkrieg, dann aber: „Die Revolution führte jedoch zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen . . .“20 Im selben Satz fährt er fort: „und zu den Opfern der militärischen Auseinandersetzungen in der Stadt kamen die politischen Morde – von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahre 1919 bis zu Walther Rathenau im Juni 1922.“ „Die Revolution“ wird zum Subjekt seines Satzes, abgehoben von den Berliner Arbeitern und Soldaten und abgehoben von den Freikorps und ihrer sozialdemokratischen Führung. Der Nationalsozialismus wird von der Identität der Stadt abgespalten, sein Sieg hat nichts mit dieser niedergeschlagenen Revolution zu tun, nichts mit ihren Ausweisungen oder mit dem Lager für die Berliner Ostjuden in Stargard/Pommern zu beginn der 20er Jahre.

Über all dies erfuhr man in dieser Ausstellung nicht, etwa über die Rede eines sozialdemokratischen Innenministers 1919 in Berlin: „Was die unerwünschten Elemente der Ostjuden betrifft, so stehe ich bereits in Verhandlungen. Ich bin der Ansicht, daß auf die Dauer nichts übrig bleiben wird, als die von ihnen besonders heimgesuchten Städte zu evakuieren und sie in irgendwelche Konzentrationslager zu überführen“.21

Gesagt von einem Minister, der nicht die „Revolution“ verteidigt, sondern eine Normalität, in der nichts „anderes“ sein durfte. Der Rassismus wurde in der Ausstellung auf die „Ausnahmezeit“ nach 1933 beschränkt. Nichts über seine Wurzeln im deutschen Kolonialismus, nichts über seine Institutionalisierung in der Weimarer Rpublik: Lehrstühle für Rassenhygiene, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Dahlem (Direktor wurde Eugen Fischer, der 1906 die Mischlinge in „Deutsch-Südwestafrika“ als „minderwertige Rasse“ bezeichnet hatte) oder der Beirat für Rassenhygiene beim Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt. An diesem Diskurs waren auch Sozialdemokraten beteiligt, so der Arzt und Reichstagsbgeordnete Alfred Gortjahn. Aber auch „fortschrittliche“ Sexualforscher, wie Magnus Hirschfeld, näherten sich den Vorstellungen einer „Gesellschaftshygiene“: „Wir müssen den Menschen selbst in das planmäßige Leben einfügen und damit nicht nur das Wirtschaftsleben rationalisieren, sondern auch den Fortpflanzungstrieb des Menschen.“22

Es ging in diesem Diskurs um Normalisierung, die sich an Produktivität orientierte. Produktive Arbeit und gesellschaftliche Integration blieben Maßstab verlangter Normalität. Und genau solche Rationalisierung der Gesellschaft wurde im Nationalsozialismus fortgeführt, von den Rassehygienikern oder den Rationalisierern der Wirtschaft, die alle ihre Arbeit vor 1933 begonnen hatten und die keineswegs überzeugte Nazis sein mußten. Es ist nur folgerichtig, daß über die Sinti und Roma in der Ausstellung geschwiegen wurde, denn sie hielt man für grundsätzlich nicht in diesem Sinne erziehbar. Das erste Lager für „Zigeuner“ entstand bereits 1936 in Berlin, in Marzahn. Auch darüber schwieg die Ausstellung, – wie über ihre Verfolgung vor 1933.

Und so kann der Historiker Rürup in seinem Vorwort zum Katalog, amgesichts der Diskriminierung der polnischen Einwanderer, die nie aufgehört hatte (über die auch die Ausstellung schwieg) den Satz schreiben, daß man in Berlin vor 1933 „auf Homogenität und Uniformität der Bevölkerung verzichtete und den vielen ethnischen, religiösen, sozialen und kulturellen Gruppen (. . .) Raum zur Entfaltung ihrer Eigenart und besonderen Fähigkeit gewährte“23. Ein solcher Raum mußte dagegen immer erneut und oft vergeblich gegen Widerstand durchgesetzt werden, polnische Schulen etwa konnten vor 1933 meist nur illegal bestehen, Ostjuden besaßen oft gar keine Aufenthaltsgenehmigung. Gefördert wurden die Minderheiten, von den Böhmen und Hugenotten angefangen, die produktiv und nützlich waren, der erste Polizeipräsident der Stadt, im 18.Jahrhundert, war Hugenotte. Die reichen Juden wurden im 18.Jahrhundert, unter für die Staatskasse nützlichen Auflagen, aufgenommen, Betteljuden gar nicht, „Zigeuner“ standen unter Todesdrohung. Die Edikte gegen die Juden und „Ziegeuner“ wurden in der Ausstellung nicht gezeigt.

Wie bei Christian Meier wurde im Martin-Gropius-Bau dann der Nationalsozialismus als das „andere“ dargestellt, wobei vermieden wurde, die „normalen“ Berliner als Täter darzustellen. Dabei hätten die Akten der Berliner Oberfinanzdirektion einen reichen Ausstellungsbestand geboten. Hier lagern die Akten, die über die Vermögenswerte der deportierten und ermordeten Juden berichten. Nachzulesen ist hier, wie eine Berlinerin eine benachbarte Jüdin erfolgreich denunziert, weil sie deren Schlafzimmer braucht, wie eine Hauseigentümerin sich darüber beschwert, daß eine jüdische Untermieterin noch nicht abtransportiert sei, weil sie so noch nicht über die Wohnung verfügen könne, wie Buchhändler (“Lange und Springer“), Möbeltrödler, Rechtsanwälte sich bereichern, wie selbstverständlich, alltäglich, normal die Deportation und die folgende Verwertung des jüdischen Besitzes geschieht, vom Gerichtsvollzieher über die Banken und Versicherungen bis zur letzten Gas- und Stromrechnung. Der normale Berliner Bürger garantierte das Funktionieren der Deportationen, der Produktion, des Staatsapparates, bis zum letzten Kriegstag. Im Katalog dagegen ist zu lesen: „Unabhängig von den Meinungen und Wünschen der Berliner Bevölkerung war die Stadt (...) zum Mittelpunkt und Entscheidungszentrum einer mörderischen imperialistischen und rassistischen Politik geworden.“24

Vergangenheit wird nicht einfach mehr verschwiegen, sie wird ausgestellt, um desto besser verschweigen zu können. Und die ausgestellte Vergangenheit wird in einen Kontext gestellt, der die produktive Normalität der Gegenwart bestätigen soll.

Diese Methode wurde in der Ausstellung bis in die jüngste Geschichte der Stadt fortgeführt. Die Hausbesetzer etwa wurden nicht verschwiegen, nein, sogar die Tür eines besetzten Hauses konnte besichtigt werden, das Kunst- und Kulturzentrum Kreuzberg wurde lobend erwähnt. Nur der tote Demonstrant Werner Rattay kam nicht vor, die Schließung des Kulturzentrums wurde nicht dargestellt, die Hausbesetzungen standen in einem Zusammenhang, über den sich jeder Immobilienhändler freuen wird: „Die 'Hausbesetzungen' stellten lediglich die radikale Zuspitzung eines zentralen Problems der modernen Wohnungs- und Stadtbaupolitik dar.“ Die Häuser wurden geräumt, Eigentumswohnungen können gekauft werden: „Wohnen in der Innenstadt“25.

Diesen Teil der Ausstellung und des Katalogs hat übrigens auch der Historiker Rürup zu verantworten – die historische Methode bewährt sich für die aktuelle Politik.

Diese Politik ist erfolgreich. Sie integriert; die Ausstellung wurde von vielen Linken gemacht, 1987 und jetzt wieder 1988 sind Jahre der Projekte; der Senat verteilt Geld. Und 1987 wurde Kreuzberg während des Reagan-Besuches abgesperrt, die Polizeipräsenz ist nach wie vor in diesem Bezirk erdrückend. Gleichzeitig wird mit Kreuzberg in den Senatsbroschüren geworben. Die Marginalisierten dagegen, die gegen die soziale und politische Verelendung protestieren, werden von den etablierten Linken als Provokateure abgetan. Sie stören. Das ist richtig.

Die Austellung ist abgebaut. Ein Teil der Ausstellung ist geblieben. Neben dem Martin-Gropius-Bau wurden Kellerreste des Prinz-Albrecht-Palais ausgegraben, in der Nazizeit konzentrierten sich auf diesem Gelände und in seiner Umgebung die Zentralen der SS. Auf dem Gelände wurde über Kellerresten eine Ausstellung in einem Bungalow eingerichtet, die über 1987 hinaus geöffnet ist, Leiter der Ausstellung wiederum Reinhard Rürup. Der Berliner Kultursenator Volker Hassemer, Mitglied des Berliner CDU –Vorstandes, ist gerade auf diese Ausstellung besonders stolz. Wenn er in Diskussionen nach der 750-Feier angegriffen wurde, verwies er immer wieder auf dieses „Gelände“ (ein in der Kulturbürokratie fast liebevoll gebrauchtes Wort). Die SPD hätte sich nie darum gekümmert. Darin ist dem Kultursenator zuzustimmen. Aber vielleicht muß man ihr zugute halten, daß ihr der nötige Zynismus fehlte, auch noch den Nationalsozialismus als Werbemittel einzusetzen. Aufklärend wirkt diese Ausstellug nicht, aber sie läßt „erbleichen“, das hat der Kultursenator auch immer wieder ausdrücklich als ihre wichtigste Aufgabe bestimmt, Folterkeller, Horrorshow aus einer fernen Zeit, touristisches Gruseln ist für die Besuchergruppen angesagt. Das Gruselkabinett erfüllt aber seinen Zweck: Es entlastet. Der Nationalsozialismus wird von jeder Gegenwart und jeder Normalität abgespalten, ganz wie Christian Meier es gefordert hat. Als Subjekt des Terrors tritt eine schwarzgekleidete Sadistentruppe auf, die SS; da gab es keine Arisierung, an der deutsche Normalbürger verdient hatten, in den KZ's ließen keine deutschen Unternehmer arbeiten, forschten keine deutschen Ärzte, das Giftgas wurde von niemandem gewinnbringend verkauft. Deutsche Wissenschaftler, Beamte, Soldaten, Nachbarn jüdischer Familien hatten damit nur insoweit zu tun, als sie von der Horrortruppe in Furcht gehalten wurden. Alles begann 1933 und endete 1945. Dieser Eindruck ist in der „Topographie“ noch stärker als in der großen historischen Ausstellung.

Die Ausstellung steht in einem städtebaulichen Zusammenhang: Man braucht nur einige hundert Meter weiter zu gehen und steht vor der für Tagungen neuerdings mit großem Aufwand und detailgetreu restaurierten faschistischen Botschaft Japans im früheren Diplomatenviertel und schräg gegenüber: Richard Wagner, angestrahlt, unter einer schützenden Plastikkuppel, – von der Nazigeisterbahn in die Gegenwart, die nicht nur die Normalität, sondern auch all das aus der Nazizeit zu retten sucht, was profitmaximierend und machtsichernd eingesetzt werden kann, von einer die Menschen rationalisierenden Wissenschaft bis zur germanisch-deutschen Mythologie.

Ein Satyrspiel der Normalisierung war 1987 der historische Festumzug in Berlin (Ost), ein postmodernes Simulationsstück. Die Spartakisten marschierten vorbei, und, als wenn es sich nicht um Darsteller, sondern um die wirklichen auferstandenen Spartakisten handelte, grüßte der Staatsratsvorsitzende, gerührt, mit erhobener Faust. Oder vielleicht war auch der Staatsratsvorsitzende ein Teil der Simulation, da ja nur noch simulierte Demonstrationen als Demonstrationen gelten, wirkliche aber als „Zusammenrottungen“, – ein Begriff, der wie der in der DDR juristisch gebrauchte Begriff des „Assozialen“ auf eine andere wirkliche und alltägliche Kontinuität verweist.

Die Simulation darf aber nicht als Simulation bekannt werden, deshalb zog der Umzug an der Tribüne der Parteioberen vorbei, die definieren, was Wirklichkeit ist. Vor dem Nationalsozialismus versagte die Interpretationskunst, dies muß der DDR, im Gegensatz zur westlichen Stadt, angerechnet werden. Der Nationalsozialismus wurde im Festzug als riesiger schwarzer Kasten dargestellt, eine verschlossene kurze Zwischenzeit in der Geschichte der Stadt, ein fernes Denkmal. Kurz danach sah man im Umzug Polizisten, die verhafteten, nicht wirkliche – Darsteller, die ihre Opfer auf altmodischen Autos verluden. Wurde hier doch noch ein Aspekt der zwölf Jahre aufgeführt? Die Lautsprecherstimme des Kommentators klärte auf: Die Volkspolizei verhaftete nach dem Krieg Schwarzhändler.

Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten haben sich normalisiert – trotz der Verhaftungen und Ausweisungen und trotz der Massenarbeitslosigkeit, trotz eines alltäglichen politisch und ökonomisch verursachten Elends. Die Antikommunisten und die Klassenkämpfer betonen gegenüber einem bedrohlichen Alltag die gemeinsamen staatlichen Interessen, wenn auch jeweils das gegenseitige Ritual der Kritik in den Medien aufgeführt wird. Solche Normalität arbeitet am inneren Frieden, d.h. am status quo der jeweiligen Gesellschaften.

Dieser innere Frieden wurde bereits nach 1945 nicht gefährdet. Beide Staaten konnten auf einer durch den Nationalsozialismus homogenisierten Gesellschaft aufbauen. Solche Sicherung wurde aber im Westen durch den Protest in der zweiten Hälfte der 60er Jahre bedroht, im Osten durch das attraktive Schaufenster des Westens. Insofern war die Mauer eine Garantie des Friedens: Sie grenzte ein und sicherte die Macht des Staates, sie beschränkte die Träume der Antikommunisten im Westen. Erst auf der Grundlage solcher Normalisierung konnten die DDR und die BRD Verhandlungen „im gegenseitigen Interesse“ der Staaten beginnen. Die Interessenabgrenzung sicherte auch die jeweilige innerstaatliche Friedensstiftung gegen ökonomischen oder politischen Protest.

Der von Carl Schmitt gefürchtete Bürgerkrieg gefährdet diese Staaten nicht. Ein November 1918 ist in ganz Deutschland seit dem Nationalsozialismus dauerhaft ausgeschlossen. Dies garantiert auch eine normalisierende „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“. Die Erinnyen schweigen.

1 Götz Aly, Das Posener Tagebuch des Anatomen Hermann Voss, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, H.4, 1987

2 Christian Meier, Vom Politikos zum modernen Begriff des Politischen, in: Ch.Meier, Die Enstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980, S.33f.

3 Ch.Meier, Aischylos'Eumeniden und das Aufkommen des Politischen, in: a.a. O., S.219

4 Ch.Meier, Kein Schlußwort. Zum Streit um die NS –Vergangenheit, in: FAZ, 20.11.1986

5 Ch.Meier. 40 Jahre nach Ausschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute, München 1987, S.16f.

6 ebd.

7 Ch.Meier, Kein Schlußwort, a.a.O.

8 Ch.Meier, 40 Jahre, a.a.O., S.37f

9 a.a.O., S.42

10 a.a.O., S.49

11 a.a.O., S.34

12 a.a.O., S.62

13 a.a.O., S.71

14 a.a.O., S.76

15 ebd.

16 a.a.O., S.80

17 Theodor W.Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, S.354

18 Meier, a.a.O., S.78

19 a.a.O., S.87

20 Reinhard Rürup, Berlin – Umriße der Stadtgeschichte, in: Gottfried Korff/R.Rürup (Hrsg.), Berlin, Berlin, Katalog, Berlin 1987, S.44

21 Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918-1933, Hamburg 1986, S.417

22 Zitiert nach: Annegret Klevenow, Geburtenregelung und „Menschenökonomie“, in: Heidrun Kaupen-Haas (Hrsg.), Der Griff nach der Bevölkerung, Nördlingen 1986, S.64

23 Rürup, a.a.O., S.54

24 Günter Morsch/Hans Wilderotter, Der „totale Krieg“, in: Korff/Rürup, a.a.O., S.561

25 R.Rürup, Stadt der Widersprüche, in: a.a.O., S.626

Mit vielem Dank entnommen Heft 6 von „Niemandsland Zeitschrift zwischen den Kulturen“, Verlag Dirk Nishen.

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