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Der große Streik von Eriwan

■ Eine Reportage von den Streikversammlungen im sowjetischen Armenien / Von Alexeij Sobtschenko

Seit Monaten sind die Sowjetrepublik Armenien und das umstrittene Berg-Karabach gesperrt - für Touristen wie Berichterstatter. Vorletzte Woche gelang es dem sowjetischen Journalisten Alexeij Sobtschenko, mit einer Reportage aus Eriwan herauszukommen. Er war dabei, als die Armenier von der Nachricht aus Moskau erfuhren, daß Berg-Karabach nun endgültig bei Aserbeidjan bleiben soll. Wie man inzwischen weiß, hat schließlich auch der erste Parteisekretär Armeniens für diese Entscheidung gestimmt. Nachdem er zunächst die Forderung seiner eigenen Basis verteidigt hatte, übte er Selbstkritik - wie gehabt. Die Lösung soll nun nach Moskaus Willen ZK-Mitglied Wolkij bringen, den man in den Transkaukasus geschickt hat, damit er den Karabach -Armeniern mehr politische und soziale Rechte anbietet. Doch die 500.000 Demonstranten, die sich am vergangenen Freitag in Eriwan versammelt haben, wollen davon nichts wissen: Sie haben angekündigt, den Kampf um Berg-Karabach mit einer Volksbefragung fortzusetzen. Auch von den Strafverfahren, die mittlerweile gegen Streikende und Demonstranten eingeleitet worden sind, lassen sie sich nicht mehr abschrecken.

Eriwan, 20. Juli, acht Uhr abends. Der riesige Platz gegenüber Matenadaran, dem Archiv für Alte Schriften, gibt den Blick auf einen breiten Boulevard voller Menschen frei. Es sind so viele, daß nirgendwo ein Ende der Menge zu sehen ist. Und es kommen immer mehr. Auch die Balkons und Dächer der angrenzenden Gebäude sind voll. Auf den Hügeln um Matenadaran sitzen Gruppen von Jugendlichen in Trauben. Es herrscht Totenstille. Sonst wäre es gar nicht möglich, den Redner auf dem Balkon von Matenadaran zu hören. Diese Stille und die unvorstellbar große Menschenmenge vermitteln den Eindruck eines irrealen Spektakels, ein fremder könnte meinen, er nehme an einem seltsamen Ritus teil.

„In der Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vorgestern hat die armenische Regierung zum ersten Mal in 70 Jahren sowjetischer Herrschaft das armenische Volk vertreten. Zum ersten Mal haben die armenischen Politiker den Mut besessen, höheren Machtorganen zu widersprechen und sich mit ihren Repräsentanten auseinanderzusetzen. (...) Sie haben uns zwar Karabach nicht übergeben. Trotzdem war diese Sitzung ein Sieg für uns. Zum ersten Mal wurden armenische Politiker bei Verhandlungen auf so hoher Ebene als Gleichberechtigte behandelt. Während des letzten Jahres haben wir viel gelernt. Wir haben gelernt zu kämpfen. Wir haben erfahren, was Enttäuschung ist, aber der wirkliche Kampf beginnt erst jetzt. Das ist der Kampf bis zum Ende.“

„Paikar, paikar, minche verch!“ - „Kampf bis zum Ende!“ schreit die Menge und erhebt bei jedem Wort die Fäuste. Die Antwort vom Balkon: „Um zu zeigen, daß das armenische Volk mit der Entscheidung des Präsidiums nicht einverstanden ist, schlägt das Komitee von Karabach vor, morgen früh um elf Uhr 15 Minuten lang zu streiken. Seid ihr einverstanden mit diesem Vorschlag?“

„Nein. Wir fordern zwei Tage Streik“, ruft ein alter Arbeiter in meiner Nähe. „Zwei Tage, zwei Tage!“ Ein Schwarm Hände erhebt sich, über dem Platz und dem Boulevard breitet sich ein Wald erhobener Fäuste aus.

„Also: Als Zeichen des Protestes gegen die Entscheidung des Präsidiums wird ein zweitägiger Streik beschlossen.“ „Gortsadul, gortsadul!“ - „Streik, Streik!“ Die bis vor kurzem für sowjetische Ohren so ungewohnten Worte zerschneiden die Luft, ihr Echo erschüttert Eriwan. Völker, die einen Genozid erlitten haben, legen in scheinbar unwichtigen Fragen eine Hartnäckigkeit an den Tag, die mit der üblichen Logik nur schwer zu erklären ist. Was ist Karabach, von Moskau aus gesehen? Ein Stückchen Land, auf dem nur 120.000 Menschen leben. Was ist Karabach für Armenien? Das Symbol für eine ewige Ungerechtigkeit, die die Moslems türkischer Sprache am armenischen Volk begangen haben und deren blutiger Höhepunkt das Massaker 1915 war. Eine Ungerechtigkeit, die an das stalinistische Regime vererbt und von diesem an die späteren sowjetischen Führer weitergegeben wurde. Aus diesem Grund war für die Armenier Gorbatschows Perestroika, die sie als Wiederherstellung der Gerechtigkeit ansahen, das Signal, für Karabach zu kämpfen.

Doch die Zeit verging, und die Antwort auf die friedlichen Massendemonstrationen in Eriwan waren das Massaker in der aserbeidjanischen Stadt Sumgait, die Beleidigungen in der Moskauer Presse und die vieldeutigen Reden Gorbatschows. Der Optimismus und der Glaube an einen baldigen Sieg haben vielleicht abgenommen, nicht aber die Entschlossenheit, den Kampf mit friedlichen Mitteln fortzuführen. Während des verganenen Jahres hat eine rapide Politisierung der Massen stattgefungen, und selbst die Führer der Bewegung sind ausgetauscht worden. Sarujanian, der Direktor des armenischen Theaters von Karabach, ist mittlerweile vergessen. Der Wirtschaftswissenschaftler Igor Muradian hat seine Popularität verloren, an seine Stelle sind weisere Leute getreten, die weniger zu Kompromissen neigen: Aschot Manucharian und Samson Kazarian - Lehrer an der besten Schule in Eriwan, die sich auf englische Sprache spezialisiert haben, der Soziologe Ambarzum Galstian, der Schriftsteller Vano Siradegian und andere.

Die Mittel des Kampfes wurden immer differenzierter. Zu den Versammlungen kamen lange Hunger- und Sitzstreiks. Ein wahres Wunder an politischem Lernvermögen der Massen war jedoch die Sitzung des Obersten Sowjets Armeniens am 15.Juni, als das Volk, das sich um das Sitzungsgebäude kaum eingefunden hatte, seiner prestigeschwachen Führung buchstäblich diktierte, wie sie die Forderung nach einer Übergabe von Karabach an Armenien zu formulieren hätte.

Leider war die Angelegenheit nicht so einfach. Am 4.Juli begann eine Gruppe radikaler Jugendlicher, am Eriwaner Flughafen Zwartnots Menschenketten zu bilden. Nach einigen Diskussionen wurde dort entschieden, 24 Stunden lang zu streiken. Am folgenden Tag erschien jemand, dessen Identität unbekannt ist, auf der Versammlung am Opernplatz und begann, Freiwillige für die Menschenketten am Flugplatz zu sammeln. Eine weitere Gruppe von etwa 700 Jugendlichen setzte sich in Richtung Flugplatz in Marsch. Am 5.Juli um sechs Uhr abends kamen dann die Truppen des Innenministeriums mit Schlagstöcken und Schilden.

Es gibt unterschiedliche Aussagen darüber, ob es eine Vorwarnung gab oder nicht. Alle Aussagen von Augenzeugen stimmen jedoch darin überein, daß sich die Soldaten äußerst grausam verhielten. Der Leningrader Ingenieur Sergei Frolow berichtet, sie hätten mit ihren Knüppeln auf alle eingeprügelt, mit Ausnahme der Russen. Dieser Zeuge versichert, daß er nach der Schlacht einen Jungen in Militäruniform traf, der nervös rauchte und immer wieder sagte: „Wie ist das möglich gewesen?“ Es war ein Soldat, der gerade aus Afghanistan zurückgekommen war. Selbst ihm, der den Krieg dort miterlebt hatte, schien das, was er in Zwartnots gesehen hatte, eine unvorstellbare Grausamkeit. Nach Berichten von Armeniern prügelten die Soldaten auf Frauen und sogar auf Kinder ein. Unbewaffneten Jugendlichen, die versuchten, Widerstand zu leisten, wurde auf den Kopf geschlagen. Dabei starben nach Aussagen örtlicher Ärzte neun Personen. Bis jetzt ist nur der Name eines einzigen Opfers, Jachik Zacharian, bekannt geworden. Ich habe jedoch ein Foto in Händen gehabt, das von der Flughafenpolizei konfisziert wurde. Da tragen zwei Personen mit schmerzverzerrten Gesichtern eine Bahre, auf der ein Jugendlicher liegt, aus dessen Mund und Schläfen Blut läuft. Daneben rennen Leute, verrückt vor Angst.

Zwartnots war ein kritischer Punkt in der Geschichte der Bewegung von Karabach. Hatten sich zunächst die Hauptenergien des Kampfes gegen Aserbeidjan gerichtet, so hört man jetzt immer häufiger Reden gegen Moskau. Die Ansichten des armenischen Dissidenten Paruir Airikian, die im Februar einmütig als antisowjetisch abgelehnt worden waren, wurden im Juli völlig anders aufgenommen. Der Katalysator, der die öffentliche Meinung gegen Moskau umschlagen ließ, war jedoch die Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR am 18.Juli. An jenem Montag wartete alle Welt ungeduldig bis zehn Uhr abends, der Zeit der Fernseh-Nachrichtensendung 'Vremia‘. Die Einwohner von Eriwan vergaßen den Fußball und die häuslichen Probleme. In allen Häusern, an allen Straßenecken wurde nur über die Sitzung des Präsidiums gesprochen. Doch der Moskauer Sprecher beschränkte sich darauf zu sagen, daß die Sitzung stattgefunden habe und daß man am nächsten Tag mehr erfahren werde.

Am Dienstag schien die Zeit stehenzubleiben. Die Stimmung war pessimistisch, niemand konnte arbeiten, obwohl Aschot Manucharian, der Anführer des Komitees von Karabach, zur Beendigung des Streiks aufgerufen hatte. Die Realität übertraf jedoch bei weitem die schlimmsten Erwartungen. Die armenische Delegation wußte genau, daß sie in Armenien mit Fußtritten empfangen werden würde, wenn sie sich nicht für die Wiedervereinigung Karabachs mit Armenien einsetzen würde. Deshalb hielt selbst der unpopuläre Chef des Präsidiums des Obersten Sowjet von Armenien, Woskanian, eine mutige Rede. Was Gorbatschow dann sagte, ließ sofort sowohl Armenier als auch viele Russen ihre Meinung über ihn ändern. Er unterbrach sämtliche armenischen Abgeordneten mit langen didaktischen Sprüchen, bezichtigte sie der Eitelkeit und warf ihnen Mangel an Selbstkritik vor. Gorbatschow verhielt sich so, wie sich beispielsweise Nikita Chruschtschow benommen haben könnte. In jener Nacht konnte in Eriwan niemand schlafen, viele erlitten Herzattacken.

Am nächsten Tag sprachen alle von „nationaler Erniedrigung“ und bedachten Gorbatschow mit Ausdrücken, die ich noch nicht einmal bei den Alkoholikern in Moskau gehört habe, wenn sie stundenlang nach Wodka Schlange stehen.

„Die Armenier“, sagte Movses Georgisian zu mir, „lernen erst jetzt langsam, daß man in diesem Land nichts umsonst bekommt. Im Februar dachten sie, es würde reichen, auf einer Versammlung die Rückgabe Karabachs zu fordern und der großzügige Onkel aus Moskau würde es sofort herausrücken.“ Und Georgisian, einer der Genossen, die Airikian am nächsten stehen, urteilt: „Jetzt wissen sie noch nicht einmal, was für eine Parole sie für die nächste Veranstaltung ausgeben sollen. Die Wiedervereinigung von Karabach? Einen gerechten Prozeß für die Mörder von Sumgait? Eine Untersuchung der mysteriösen Vergiftung von Masis? Oder die Verurteilung der Soldaten von Zwartnots? Früher oder später werden sie verstehen, daß das einzige Ziel, für das es sich lohnt zu kämpfen und Opfer zu bringen, die Freiheit ist.“

„Samwel“, fragte ich einen befreundeten armenischen Journalisten, „was wird weiter geschehen?“ - „Ich weiß es nicht.“ - „Könnte es sein, daß ein armenischer Extremismus auftaucht?“ - „Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Aber ich kann es auch nicht ausschließen.“ - „Wer könnte zum Extremisten werden?“ - „Ich zum Beispiel. Wenn sie meiner Frau mit einem Schlagstock auf den Kopf hauen.“

Copyright: 'El Pais‘ (Madrid)

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