: Roll over Beethoven
■ Sani-Täter und Kreislauf-Opfer steuerten das Ihre an musikalischen Einlagen bei anläßlich des Zuwenig-Platzkonzerts in Bremen von Sir Yehudi Menuhin, Justus Frantz plus Wummeranlage
Dialog in der Pause: Wann spielt denn eigentlich der Menuhin?... Ach, der spielt gar nicht, der dirigiert bloß! Und ich hätte ihn doch soooo gern mal Klavier spielen sehen!
Der Verzicht auf den pianistischen Auftritt des humanistischen Weltenbummlers, noblen Kaffee-und Schwarzwälderkisch-Schwarms und aus Funk und Fernsehen bekannten Kopfstehers Sir Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. Yehudi Menuhin, der übrigens im Alter von sieben Jahren auch sehr nett Geige gespielt haben soll und diesen Ruf aus mir rätselhaften Gründen bis zu seinem inzwischen 73. Lebensjahr nicht wieder losgeworden ist - er war nicht die ärgste, einzige und auch nicht die erste Enttäuschung, die sich ein 10.000-köpfiges Publikum am Montagabend zu Preisen zwischen 25 bis 45 Mark einhandelte. Immerhin hatte der Veranstalter die Lücke am Klavierhocker mit keinem geringeren als dem pianistischen Begleiter unseres Ex-Bundeskanzlers und Barschel-Duz-Freund, Justus Frantz, durchaus kongenial geschlossen.
Nein, erheblich abträglicher war dem Kunstgenuß da schon die Unart älterer Herrschaften, wiederholt und an den musikalisch unpassendsten Stellen umzufallen und im zartesten Pianissimo geräuschvoll-hektische Aktivitäten unter den anwesenden Sanitätern auszulösen. Doch nicht musikalische Enthusiasmiertheit, sondern medizinische Kreislaufschwäche dürfte wesentlichen Anteil an der vor allem nach der Pause vermehrt zu beobachtenden Fallsucht gehabt haben: Unvorbereitet hatten die Opfer bis dahin häufig eineinhalb Stunden stehend verbracht.
So dürfte auch die allgemeine
Aufgeregtheit zu Beginn der Marktplatz-Massen-Serenade eine im Grunde harmlose Erklärung finden: Gellende Schmerzensschreie in der gespannten Erwartungs-Stille, fäustereckende distinguierte Herren, unflätig fluchende feine Damen - sie gaben offensichtlich weniger der mitleidig -altruistischen Betroffenheit über das tragische Kerkerdrama der treuen Leonore Ausdruck als der egoistischen Sorge um die geschundenen eignen Füße, der Aussicht, nicht die geringste Aussicht zu haben, und den hilflosen Versuchen, sich guten Bekannten über Dutzende von Stuhlreihen platzanweiserisch vernehmlich zu machen: Hunderte von Karten enttäuschten das Versprechen auf einen Sitzplatz. Nicht Beethoven, sondern die Veranstaltungsorganisatoren hatten die Volksseele bereits in einen Zustand zornesschwangerer Revolte versetzt, noch bevor der erste Ton aus der gewaltigen PA dröhnte.
Ach, auch die! Die Technik der Disko-Kultur mag jedem schwachbrüstigen Pop-Star zu musikalischer Massenverständlichkeit verhelfen. Beethoven und Schumann dürfte mit jeder beim Otto-Versand erhältlichen Kompaktanlage zu mehr Wohlklang zu verhelfen sein. Nur leiser. Sägende Violinen, scheppernde Trompeten, trötende Oboen. Die zartesten Celli-Kantilenen gerieten dank gigantischer Pop-high-tech zum grunzenden Urwald-Geräusch, das Beethoven selbst im düstersten Pauken-Gegrummel und schwärzester Kontrabaß-Melancholie kaum gemeint haben kann. Und das dreifach-insitierende Kurz-kurz-kurz-lang Gehämmer der Fünften, bei dem dem Bürger gängig das Schicksal an die Türe pocht, klang eher nach der volltrunkenen Rückkehr eines über alle Stränge geschlagenen
Spießers vom Betriebsausflug, der in verzweifelter Suche nach dem Hauschlüssel torkelnd die Zornesausbrüche einer Xanthippe von Ehefrau hinterm Eingang des gemeinschaftlichen Schlafgemach gewärtigt: Wauieh-jauh-jauh-jaah.
Genug davon. Fehlende Sitzgelegenheiten und grobschlächtiger Rock-Sound mögen einem verwöhnten Feine -Leute-Publikum schon den Abend vermiest
haben. Aber was sagt das gegen einen Domshof voll mit Musik und Menschen, deren Mehrheit vielleicht alles kulturbeflissene Pausen-Parlieren über die interpretatorische Phrasierung der Scherzo-Pizzicati bei Bernstein und Solti abgehen mag, aber nicht die Lust an Beethoven? Ihm hats kaum geschadet, und scheußlicher als 1808 bei der kaum geprobten Uraufführung kann die Fünfte auch auf dem Bremer
Marktplatz nicht geklungen haben. Und wenn der olle Meister noch die Wahl hätte, wären ihm die erst gereizten, dann halbwegs versöhnten, schließlich begeisterten Massen auf dem Marktplatz sicher allemal lieber gewesen als die sektselige Salzburg-Schickeria, die sich naserümpfend der Verteidigung des klassischen Kulturerbes gegen die Pop-Kultur verschrieben hat.
Wer für 45 Mark interpretatorische Filigran-Arbeit erwartet hatte, war am Mittwoch abend einfach auf der falschen Veranstaltung und hätte sich das gefälligst auch vorher denken können. In sorgfältig abgesperrtem Gelände wurde dem braven Bremer Bürgertum der Revolutionsmarsch mit so plebiszitärer Unwiderstehlichkeit geblasen, daß das Domshof -Pflaster bebte, die Ohnmächtigen auferstanden und die versammelte Prominenz um die Grundfesten des Rathauses und die Macht im Bundesstaat zittern mußte. Der Bremer Einbruch der Dramaturgie des Pop-Konzerts in die Domänen der Klassik hat dem Bremer Volk mehr von seinem Beethoven beigebracht, als es sich wahrscheinlich selbst geträumt hat. Und wenn ich mich nicht irre, hat nicht viel gefehlt und Disko-Queens und Hausfrauen, Beamtenanwärter und technische Angestellte, Zahlende und Zaungäste wären bei der mitreißenden Wiederkehr des „Da-da-da-Daah! im dritten Satz einträchtig auf die Stühle gestiegen, um Beethoven, Menuhin und dem blauen Abendhimmel ein Stück näher zu sein, hätten Wunderkerzen angezündet und ihre Körper im Rhythmus der „Schicksals -Sinfonie“ hüpfen lassen, bis ihnen gegenüber Hypo-Bank und Bremer Bank im Geschepper der Posaunen zusammengesunken wären.
K.S.
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