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Zeit der Kirschen

■ Besuch von drüben in Moabit

Moabit ist schön, und weil dies so ist, schlagen immer mehr EinwohnerInnen zur immer gleichen Nachmittagsstunde dem neuen Sofakissen den Knick aus den Federn und werfen dieses und sich selbst auf das hölzerne Brett vor dem geöffneten Fenster. Vieltausende Oberkörper von Menschen, Tieren und Ehepartnern ruhen auf geschonten Unterarmen und machen auf den hohen menschlichen Bevölkerungsanteil zwischen Wilhelmsruher-, Wiebe- oder Waldstraße aufmerksam. Deutlich spiegelt sich die Freude auf den Gesichtern, wenn sie sich selbst und ihre Geranien in den roten Hängegeranien der gegenüberliegenden Balkonbrüstung wiederfinden. Die MoabiterInnen kieken'die Autos parken oder überholen, die Brummis rollen, und der große Gelbe hält an der Haltestelle. Nur die Wälle und die Wellen auf dem ansonsten makellosen Pflaster der Straße wirken beunruhigend und stören die Ruhe der Fensterkucker und Kuckerinnen, die viel von ihrer Fensterzeit damit zubringen müssen, sich von Sims zu Balkon und wieder zurück Worte der Empörung zuzuwerfen.

Während der Sommermonate mehren sich nicht nur die geöffneten Fenster der Vorstadtteilfronten, sondern auch die Menschen und die Blicke, die sie werfen. Besuch ist gekommen. Meist von drüben, häufig aus Oldenburg, und manchmal auch aus deutschen Großstädten fern von Moabit. Auswärtige Verwandte oder Freunde helfen zu dieser Zeit den MoabiterInnen beim Kirschenentkernen auf dem Balkon oder beim Holzsammeln und -sägen für den kommenden Winter. Dem Berlin-Besuch zuliebe vernachlässigen die Hausfrauen manchmal ihre Küche und genehmigen sich einen geselligen Imbiß in der Arminius-Markthalle oder fahren sonntags früh zum etwas weiter entfernten Flughafen Tegel. Um zu frühstücken und die vielen Flugzeuge zu kucken. Das Mittagessen, jeden Tag Spanferkel mit Kartoffelsalat zu zwölffuffzig, im Oldenburger- oder Bredow- oder Krefelder -Eck ist auch ein beliebter Besuchs-Überraschungsknüller. Besonders nach dem Baden im gekachelten Schwimmbad Humboldthain oder im sandigen Bad des Volksparks Jungfernheide. Aber das liegt schon in Charlottenburg, und wenn schon weiter entfernt dann doch lieber die Busfahrt zum Reinickendorfer Schäfersee, eine Runde rum, in der Sadtbibliothek nach den Büchern zur Fernsehserie gefragt und doch nicht ausgeliehen. Weil die drei Wochen Urlaub schon fast wieder rum sind. Sie vergehen immer so schnell, und jedesmal, wenn die westdeutschen Freunde kommen, spielen sie gerade nicht den Film mit Mike Krüger und Thomas Gottschalk im Zoo-Palast und auch nicht im Marmorhaus, und so sind sie wieder nicht in die Stadt gekommen. Aber Moabit ist schön. Die EinwohnerInnen sind stolz und freuen sich doch ein bißchen auf den Herbst, wo auf den Straßen und in den Kneipen niemand mehr „Moabittt“ sagt, weil der Besuch überall wieder abgereist ist.

reg+++

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