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„Ohne Bauch wär‘ das nicht passiert“

Wohltätigkeitsspiel zugunsten der Deutschen Rheumaliga / „Weltmeister 1974“ - Berliner Altstars 7:5  ■  Aus Neukölln Matti Lieske

„Einzigartig sind die Neuköllner. Ein unverwüstlicher Menschenschlag. In ihnen fließt das Blut von Tartaren und hartgesottenen Zuchthäuslern, von Hafennutten und arabischen Teppichhändlern, das schwarze Blut von schwermütigen Kartoffelbauern.“ So beschrieb Olga O'Groschen die Menschen des Berliner Bezirks in ihrem legendären Neukölln-Report (Berlin-taz vom 7.1.88). Am Samstag waren die solchermaßen charakterisierten Exemplare des „homo neocoloniensis“ zuhauf ins heimische Hertzberg-Stadion gepilgert, um die Fußballgrößen von einst zu begutachten. Saufend und röhrend standen sie am Spielfeldrand, stets bemüht, einen reibungslosen Ablauf der Bierversorgung zu gewährleisten oder Sektkelche aus Plastik zu schleppen - vier in jeder Hand, in jedem Kelch ein Finger.

Die umlagerten Bierstände korrespondierten aber auch hervorragend mit den Bäuchen etlicher Akteure auf dem Spielfeld, wo eine Berliner Altstar- und Prominentenauswahl, der verdiente Fußballer wie Patzke, Rüßmann, Cullmann, Erler, Max Lorenz, Luggi Müller, Horst Wolter u.a. angehörten, gegen die „Weltmeisterelf von 1974“ antrat. Wahre Weltmeister waren zwar nur fünf gekommen Beckenbauer, Overath, Vogts, Sepp Maier, Bonhof - diese präsentierten sich dafür rank und schlank wie eh und je. Leider hatten sich in ihre Reihen zwei Personen verirrt, auf die nicht allzu genau eingegangen werden soll, weil das in angemessener Form wohl kaum ohne juristische Konsequenzen möglich wäre: Eberhard Diepgen und Thomas Gottschalk.

Wer von den 5.000 Zuschauern gekommen war, eine Fußballshow der Künstler aus den goldenen Zeiten des deutschen Fußballs zu erleben, kam nur auf seine Kosten, wenn Beckenbauer und Overath sich das Leder zufüßelten. Uwe Seeler, Sturmspitze der „Weltmeister“, mühte sich redlich wie immer, mußte sich vom Publikum jedoch den mitleidlosen Zuruf: „Ohne Bauch wär‘ das nicht passiert“ gefallen lassen, als ihn ein Ellenbogencheck von Patzke nach Luft japsen ließ. Der Rest war Standfußball und Klamauk, angereichert durch einen unsäglichen Conferencier aus dem Hause Springer, der allerdings - wie allseitiges Gelächter bewies - den feinsinnigen Humor des Neuköllners ziemlich genau zu treffen wußte: „Foul an Diepgen, Luggi Müller hat den Regierenden gestürzt“, hahaha, der Mann isjutwa.

Überraschend das subversive Vorgehen einiger eher konservativ einzuschätzender Kicker gegen ihren Spielkameraden von der CDU. Während Uwe Seeler sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, Herrn Diepgen eine 20-m -„Seeler-Bombe“ ins Kreuz zu schmettern, als dieser wie ein aufgescheuchter Hase vor ihm herumhöppelte, legte Overath durch manch klugen Paß schonungslos offen, was Diepgen sonst sorgfältig zu verbergen weiß: wie wenig er des Mitdenkens mächtig ist.

Maier, Gottschalk und Roberto Blanco, der bei den Berlinern kurz auftrat, chargierten derweil, als befänden sie sich in einer jener krachendkomischen neudeutschen Filmkomödien, über die sich schlichte Gemüter wie der oberste Bundesfilmförderer Friedrich Zimmermann so köstlich zu amüsieren pflegen.

Die Tore fielen wie reife Früchte, spielten aber keine Rolle. Schon gar nicht für die Neuköllner Jugend, die Beckenbauer hin, Seeler her - ihren Superstar bereits während des Spiels ständig umringte: den tendenziell verwampten Thomas Gottschalk, der allerdings auch nicht ungeschoren davonkam. Als er sich nach dem Schlußpfiff das vom Autogrammschreiben verschwitzte Trikot vom Leibe riß und es überdeutlich wurde, wie sehr er mittlerweile jenem Fast -Food-Produkt ähnelt, für das er zur Zeit Reklame macht, kommentierte eine Zuschauerin uncharmant kichernd: „Wat hatt'n der für 'ne Figur, is ja herrlich!“ Wie überliefert uns doch Olga O'Groschen: „Um dem Grauen zu entkommen, sagen die Neuköllner, muß man sich ganz darin versenken.“

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