: Heuschrecken: des Teufels fliegende Teppiche
Heuschreckenplage in Westafrika eskaliert / Regenzeit sorgte für erhöhte Schlupfrate / Eine Million Tonnen Getreide wird gerade von den gefräßigen Schwärmen vernichtet / Pestizideinsätze gefährden Menschen / Heuschrecken werden zunehmend resistent gegen das Pestizid ■ Von Holger Baum
„Jetzt sind die ersten schon in Italien gelandet. Suchflugzeuge kreisen über dem Mittelmeer.“ Die Rede war nicht von einer Invasionsarmee Ghaddafis, sondern von Hunderttausenden kleiner grüner Tierchen, die aus Afrika kommend den europäischen Kontinent erreicht hatten: Heuschrecken. Diesmal haben die italienischen Bauern noch Glück gehabt. Die Tiere waren vom Flug über das Mittelmeer so erschöpft, daß die meisten von ihnen am Boden verendeten. Für Afrikas Bauern bedeutet das massive Auftreten der Wanderheuschrecken eine neue Katastrophe.
Nach ersten vorsichtigen Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO in Rom sind die gefräßigen Insekten augenblicklich dabei, mehr als eine Million Tonnen Getreide zu vernichten. Die ergiebige Regenzeit der letzten Wochen hat dazu geführt, daß die Schlupfrate, wie es die Fachleute nennen, extrem angestiegen ist. Besonders betroffen sind die westafrikanischen Staaten Mauretanien, Tschad, Mali, Marokko, Algerien, Sambia und Guinea sowie die westlichen Regionen des Sudan und die äthiopischen Nordprovinzen.
Wo die Schwärme auftauchen, verdunkelt sich schlagartig der Himmel. Die durchschnittliche Größe eines einzigen Schwarms: ein Quadratkilometer oder 50 Millionen Heuschrecken. Im Frühjahr dieses Jahres tauchte im südlichen Tunesien die bisher größte Insektenarmada auf, die je gesichtet wurde: Auf rund 400 Quadartkilometer schätzten die FAO-Beobachter die Schwarmgröße. „Die Tiere flogen so dicht, daß wir mit unseren Maschinen weder starten noch landen konnten“, sagte der Pilot einer von der FAO eingesetzten Beobachtungsmaschine. Afrikanische Bauern nennen die Schwärme „des Teufels fliegende Teppiche“.
Jedes Insekt frißt täglich so viel Grünzeug wie es wiegt rund zwei Gramm. Ob Blätter, Grashalme oder Hirsefelder nichts ist vor ihnen sicher. Angesichts der Gefahr kompletter Ernteverluste haben sich die Regierungen in Nordafrika entschlossen, einen gemeinsamen Krisenstab einzurichten. Die wegen des Westsahara-Konflikts im Streit liegenden Länder Algerien und Marokko haben ihre Differenzen fürs erste vergessen und sich auf gemeinsame Bekämpfgungsaktionen verständigt. Damit wurde eine wichtige Voraussetzung geschaffen, der Plagegeister Herr zu werden. Bislang war es nämlich den Sprühflugzeugen nicht möglich, über militärischen Sperrgebieten zu operieren. Die Kriege und Bürgerkriege in Afrika gelten als eine der Ursachen für das massive Auftreten der Locusta migratoria. Zahlreiche Brutstätten liegen in den Krisengebieten Eritrea, Tigre, Sudan und Westsahara. Den Schädlingsbekämpfern der FAO bleibt dort der Zugang verwehrt. Mit über hundert Flugzeugen sind sie derzeit im Dauereinsatz, um aus der Luft alles mit Pestiziden zu besprühen, was noch grünt. Die größten Erfolge wurden mit DDT erzielt. Der Einsatz der hochtoxischen Chemikalie wirft allerdings neue Probleme auf. Die Flugzeuge mit der tödlichen Fracht an Bord werden auch über bewohnten Gebieten eingesetzt. In der Regel ohne Vorwarnung der Bevölkerung. Durch den großflächigen Einsatz der giftigen Substanz werden zudem die Insekten resistent, so daß von Jahr zu Jahr größere Dosen erforderlich sind. Die nicht abbaubaren Substanzen gelangen über die Nahrungskette in den menschlichen Körper.
In einigen Gebieten Afrikas gelten geröstete Heuschrecken als Leckerbissen. Wegen ihres hohen Proteingehalts sind sie außerordentlich nährstoffhaltig und werden deshalb in Mangelsituationen als letzte Nahrungsreserve genutzt. Für die nicht aufgeklärte Landbevölkerung Afrikas bedeuten neben DDT-verseuchten Lebensmitteln verseuchte Insekten eine doppelte Gefahr.
Beim FAO-Krisenstab zur Heuschreckenbekämpfung, abgekürzt ECLO, sieht man sich in einem Dilemma: „Eigentlich“, sagt Lukas Brada, der niederländische Insektenforscher bei ECLO, „müßten wir das fünffache dessen sprühen, was wir zur Verfügung haben. Anders ist eine Hungerkatastrophe nicht zu vermeiden.“
Andere Fachleute dagegen warnen wegen der nicht absehbaren Folgen vor dem wahllosen Einsatz der chemischen Keule. Sie verweisen vielmehr darauf, daß das seit 1979 vermehrt zu beobachtende Auftreten der Heuschreckenschwärme Anzeichen für die aus dem Gleichgewicht geratene Ökologie des afrikanischen Kontinents ist. Zwar gab es die sporadische Insektenplage auch schon zu mosaischen Zeiten, aber auffällig ist die Häufung in den letzten Jahren. Die genauen Ursachen sind freilich noch unklar.
Gewöhnlich treten Heuschrecken als Einzeltiere auf und richten dann auch nur geringen Schaden an. Das Weibchen legt bis zu einhundert Eier und vergräbt sie einige Zentimeter unter der Erdoberfläche, vorwiegend in der Nähe von Wasserstellen. Bei Beginn der Regenzeit schlüpfen die Larven und entwickeln sich zu flugfähigen Heuschrecken. Finden die Tiere im Brutgebiet zu wenig Nahrung oder ist die Insektenpopulation zu hoch, kommt es zur Schwarmbildung, und die Tiere lassen sich von den Windströmungen in feuchtere Gebiete tragen. Zwischen 500 und 1.000 Kilometer pro Tag legen die Tiere auf diese Weise zurück.
Auf der Suche nach einer biologischen Schädlingsbekämpfung haben Wissenschaftler an der Universität Oldenburg herausgefunden, daß die Insekten über ein hormonell gesteuertes Verständigungssystem verfügen müssen, das wirksam wird, wenn Futtermangel auftritt. Offenbar werden dabei Duftstoffe ausgetauscht, die als Signal zur Schwarmbildung wirken.
Die Wissenschaftler experimentieren derzeit mit der Möglichkeit, die Duftstoffe zu isolieren und darüber einen Weg zu finden, das Kommunikationssystem der Insekten zu stören. Am Max-Planck-Institut für Bio-Chemie in Martinsried erprobt eine Arbeitsgruppe eine andere Methode: Mit Azadirachtin, einem Wirkstoff aus dem Samen des tropischen Neem-Baumes, soll versucht werden, Wachstum und Fortpflanzung der Heuschrecken zu hemmen. Sollte es gelingen, die entwicklungshemmende Wirkung des Azadirachtins aufzudecken, wäre erstmals ein umweltschonendes Schädlingsbekämpfungsmittel gegen die Heuschrecken gefunden.
Für Warmblüter, Säugetiere und Menschen sind die Neem -Wirkstoffe ungefährlich. In der Volksmedizin Indiens gilt der Neem-Baum schon seit altersher als Wunderwaffe gegen Schädlinge. In seinem Schatten kann man sich unbelästigt von Mücken ausruhen. Die Plagegeister machen einen großen Bogen um den „Wunderbaum“.
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