piwik no script img

Hör-Funken: "Literatur: Das Leben" / "Mit der Kirche ums Dorf"

(„Literatur: Das Leben“, 2206-2330, Bayern2). Ingomar von Kieseritzky („Das Buch der Desaster“) entdeckte schon in Vergil eine Figur aus der unendlichen Klein & Groß -Katastophenwelt, die das Leben nicht in die Literatur, die Literatur aber schon gar nicht ins Leben kommen läßt. Vergils Leben sei nämlich von derartigen Turbulenzen heimgesucht worden, pausenlos in seine private und berufliche Existenz einbrechend, daß er davon abgehalten wurde, seinem Beruf als Schriftsteller nachzugehen. Gepeinigt von der Lebensfülle, sucht er Rat beim Bibliothekar Blunt und dessen belesenen Kunden Mourian, die mehr unter Lebensleere leiden, dafür aber der Manie des Tagebuchschreibens verfallen sind, das auch noch das tägliche Nichts literarisch verwertet. Mit Hochgenuß werfen sich Blunt und Mourian auf Vergils Katastrophen, beseelt vom Gedanken, daß nur die Ordnung des Tagebuchs fähig ist, in der Zeremonie des Schreibens das verlockend böse Chaos zu bannen. Erst als Vergils Schwester Andromache auftaucht, entdecken die Herren Bibliothekshocker, daß Vergil ihre Ordnungs-Literatur vielleicht nicht nötig hatte. Das Hörspiel von Ingomar von Kieseritzky umkreist sardonisch die Phänomene von Literatur ohne Leben, Literatur als Lebenshilfe und Literatur als Lebensersatz.

(„Mit der Kirche ums Dorf. Endgültiges über die literarischen Moden der achtziger Jahre“, 2230-2400, SWF2) „Bücher, Bücher, aber nichts zu lesen.“ Die Herren Hörisch und Winkels stimmen vor Mitternacht den Schwanengesang auf die gesellschaftskritische Literatur der sechziger und siebziger Jahre an, wenn sie über die ideenlosen und den großen Phantasmen abholde Bücherwelt der achtziger Jahre klagen. „Was ist da passiert“, sind die Bücher dick und hohl, das Leben aber üppig, wenn auch kleinformatiger. Die literaturwissenschaftlichen Gretchenfragen nach soziokulturellen und medientechnischen Bedingungen für ihr Objekt der Begierde und dem „Zerfallen der öffentlichen Verantwortsethik in den allgemeinen Schwachsinn“ beteiligen sich daran, die Kirche ums Dorf zu schleppen.

up

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen