Literatur im Koffer

■ Die verkürzte Universalgeschichte einer transportablen Verschwörung

Was zuviel ist, ist zuviel. Unsere Tragfähigkeit ist begrenzt. Wir vertragen nicht alles, was in geringen Dosen zuträglich ist.

Walter Benjamin, weiß Enrique Vila-Matas zu berichten, hat mit bemerkenswertem Erfolg an einer lustigen Maschine zum Bücherwiegen gearbeitet. Mit ihrer Hilfe kann ein jeder die tragbare Literatur von der untragbaren scheiden. Allen potentiellen Lesern sei sie empfohlen. Marcel Duchamps Anliegen war die Miniaturisierung. Denn die Miniatur ist die geeignete Form, Dinge zu besitzen für einen Vagabunden oder Exilierten, eben weil sie tragbar ist.

Vila-Matas schreibt eine verräterische Geschichte: die Geschichte der shandyistischen Verschwörung um der Verschwörung willen, die vielleicht mit Andrej Belyjs Nervenkrise 1924 auf jenem Felsen begann, auf dem Nietzsche zuvor die Eingebung der ewigen Wiederkehr hatte. In Vila -Matas‘ labyrinthischem Text treffen sich so heterogene Köpfe wie Walter Benjamin, Andrej Belyjs, Marcel Duchamp, Italo Svevo, Paul Morand, der mit einem Kofferschreibtisch reiste. Jacques Rigaut betrieb eine Selbstmordagentur in Paris, bevor er sich selbst in Palermo das Leben nahm, in jenem Grand-Hotel, in dem Jahre später Raymond Roussel, der als erster Afrika mit einem rolling home bereiste, an den Folgen exzessiven Barbituratabusus verschied. Tristan Tzara, ein zeitweiliger Vertrauter Bretons, arbeitete selbst an einer tragbaren Literaturgeschichte. Berta Bocado versucht sich an einem absoluten Buch. Stefan Zenith und der deutsche Schriftsteller Kromberg werden von Odradeks gepeinigt. Kromberg stirbt, dem Wahnsinn verfallen, in Kaschmir. Antheil, der Zeremonienmeister, schreibt mit seinem Ballet mechanique shandyistische Musik. Pessoa, ein Freund des Verräters Aleister Crowley, um nur einige der Tragbaren zu nennen.

Es werden Treffen arrangiert. Das erste findet 1924 in Port Atif, dem Hauptort Roussels „Eindrücke aus Afrika“, an der Nigermündung statt und führt zur Gründung der shandyistischen Geheimgesellschaft. Der Begriff des Shandy verweist neben seinem Bezug auf Laurence Sterns Buch auf eine alkoholische Nebenbedeutung: Bier mit Ginger Ale. Ein Shandy verfolgt keine großen Pläne, praktiziert als femme fatale bzw. Junggesellenmaschine eine extreme Sexualität und verneint den Sinn des Selbstmordes. Nach dem Suizid Rigauts lehnten die Tragbaren (syn. Shandy) den Freitod vehement ab. Der Selbstmord dürfe nur im Raum der Schrift, auf dem Papier realisiert werden, schrieb Paul Morand, nachdem Rigaut noch zu Lebzeiten selbst festgestellt hatte: Es gibt keinen Grund zu leben, aber es gibt auch keinen zu sterben. Die Eidesformel der Tragbaren stammt aus dem Tristam Shandy: Der Ernst ist ein mysteriöser Kontinent des Körpers, der dazu dient, die Fehler des Geistes zu verbergen.

Ein zweites Haupttreffen wird von Larbaud in Littbarskis Haus organisiert. Werner Littbarski ist ein Karl-Kraus -Hasser, der es fertigbrachte, binnen 48 Stunden einen Druckfehler in der Fackel zu entdecken, was er mit seinem schwarzen Diener reichlich mit Chmpagner begoß. Das Wiener Fest hat tatsächlich stattgefunden, die anderen seiner Massenfeste pflegte Littbarski nur zu simulieren ( - wogegen nichts einzuwenden ist).

Prag ist der Ort, wo die Tragbaren erstmals mit den Odradeks konfrontiert werden. In Triest, dem Wohnort Svevos, suchen sie sich ihrer durch absoluten Müßiggang zu entledigen. Freilich ohne Erfolg. Er ist ihnen erst auf ihrer statischen U-Bootreise im „Bahnhof Zoo“ beschieden; Odradeks vertragen keine Unterwasserluft. Odradeks sind schwarze Mieter. Sie wohnen und verstecken sich in dunklen Wahrheiten, sie treten zumeist nach intensivem Zusammenleben mit einem Doppelgänger in Erscheinung. In Rumänien werden sie Bucarestis genannt. Odradeks können verschiedene Gestalten annehmen. So ist Kafkas Odradek eine Zwirnspule, der Salvador Dalis eine masturbierende chinesische Geige, die gebenenfalls heftig in die Vagina resp. den Anus eingeführt werden kann, um auf ihr onanistische Symphonien zu inszenieren. Laurice Blanchot dagegen erkennt in dem Monströsen, dessen Offenkundigkeit Man Ray in Triest so sehr schockierte, jene fremdartigen Bastarde, die die Gestalt der Dinge sind, die diese im Vergessen annehmen.

Paul Klee schreibt das Logbuch des von Fürst Mdivani gemieteten Schrott-U-Bootes „Bahnhof Zoo“. Es werden tragbare Marionettentheaterstücke aufgeführt. Die Marionette ist den Tragbaren so interessant, weil sie in ihren Bewegungen nicht vom eigenen Bewußtsein abhängig ist. Sie ist ihnen, wie Goethen, eine Metapher für die Basis eines weisen Wanderers zwischen den Risiken des Wissens und dem hohen Licht der Gnade. Cesar Vallejo stellt in einem Marionettentheaterstück fest: Wie seltsam ist doch eine Tote?!

Die Verschwörung der Tragbaren geht 1927 an einem Verrat des Satanisten Aleister Crowley zu Grunde.

Und Enrique Vila-Matas begeht vielleicht einen letzten imaginären Selbstverrat an einer simulierten Verschwörung, indem er mit fast pornographischer Offenheit die Geschichte einer kaum identisch in Sprache reproduzierbaren Geschichte wiedergibt: die Geschichte der femmes fatales, Odradeks und Bucarestis, der Junggesellenmaschinen, deren Hoden voll von Engeln sind, wie Rita Malu in ihren Briefen aus Mogadischu schreibt, die beides gleichermaßen produzieren und praktizieren, eine autarke Kunst und eine extreme, am totalen Autismus orientierte Sexualität. Daß dieses verkürzte Geschichtsbuch nur in einem in die Imagination transponierten Sinne authentisch genannt werden darf, hat seinen Grund vielleicht im transitorischen Charakter einer jeden Erzählung, und aller tat-sächlich stattgefundenen Geschichte, die, wie der Klatsch, niemals identisch wiederholt werden kann. Identität ist erst in der Hölle möglich. Hier auf Erden kann sie bestenfalls real werden.

Enrique Vila-Matas‘ verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur ist allen Exilierten, aber auch statisch Reisenden allein schon wegen ihrer Tragbarkeit zu empfehlen (174 g). Darüber hinaus dürften sich vom Umschlagbild die Liebhaber schöner Hunde angesprochen fühlen. Vermutlich wird niemand auf die Idee kommen, daß es sich hier um eine literaturwissenschaftliche Abhandlung handeln könnte. Vila -Matas sieht die klassisch gewordene Moderne in jenem geheimwissenschaftlichen Licht, das ihr selbst eigen ist, betrachtet sie aus dem Blickwinkel der dunkleren Teile unserer Seelen, die die Shandys auszuloten und zu erhellen suchten.

Ulrich Ebermann

Enrique Vila-Matas, Dada aus dem Koffer. Die verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur. Popa-Verlag München 1988, 126 S., 24,80 DM