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Polizeichaos statt Strategie

„Wir wollten auf keinen Fall Menschenleben gefährden“, sagte ein Sprecher der Bremer Polizei gestern mittag auf einer Pressekonferenz. Doch ob die Polizei sich diesem Ziel entsprechend verhalten hat, daran gibt es erhebliche Zweifel.

Obwohl die Polizei Rösner, der vor zwölf Monaten aus einem Hafturlaub nicht wieder ins Gefängnis zurückgekehrt war, als Menschen mit einer „psychopathologischen Grundstruktur“ einschätzt, also genau wußte, daß sie sich auf rationales Verhalten nicht würde verlassen können, gab sie schon kurz nach dem Banküberfall in Gladbeck der Verfolgung den Vorrang vor der Abmachung mit den Kidnappern.

Als diese das am Abend bemerkten, reagierten sie tatsächlich so, wie es niemand vorausgesehen hatte. Sie kaperten einen Bus mit mehr als 30 Fahrgästen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei durchaus die Möglichkeit, die Businsassen wieder freizubekommen. Die Forderung der Kidnapper: Austausch der nervlich völlig überanstrengten Gladbecker Geiseln gegen einen Kripobeamten und einen Journalisten. Zwei Stunden lang ließ die Polizei die Kidnapper in dem Glauben, über ihre Forderungen werde verhandelt. Der als Vermittler auftretende Journalist fand jedoch nicht einmal einen kompetenten Gesprächspartner. Weder Bremens Innensenator Bernd Meyer noch Polizeichef Ernst Dieckmann schalteten sich vor Ort in das Geschehen ein.

Die Order an die Beamten vor Ort war schon frühzeitig über Polizeifunk ausgegeben worden. Wörtlich: „Keine Kontakte aufnehmen.“ Und dazu wurde das Verwirrspiel derart dilettantisch geführt, daß die Kidnapper es geradezu durchschauen mußten. Scharfschützen nahmen, für jedermann sichtbar, an Wohnungsfenstern Aufstellung. Das Handfunkgerät funktionierte nicht. Als die Kidnapper über Autotelefon verhandeln wollten, nahm auf der von der Polizei angegebenen Nummer niemand den Hörer ab. Um kurz vor zehn Uhr abends wurden auch noch die Beamten aus Nord-Rhein-Westfalen gegen Bremer Polizisten ersetzt. Beobachter vor Ort sprachen von totalem Chaos. Mittlerweile waren statt zwei mehr als dreißig Menschen gekidnappt.

Völlig versagte die Polizei dann in der Nacht an der Raststätte Grundbergsee. Während etwa 100 Beamte am Seitenstreifen vor der Raststätte warten, machen die etwa 20 Polizisten - Pistole in der Hand - einen völlig verwirrten Eindruck. Die Situation war ausgesprochen unübersichtlich auch deshalb, weil Journalisten nach Belieben und eigener Risikobereitschaft um den Bus herumwieseln konnten. In diesem Durcheinander gelang es der Komplizin der Geiselnehmer unbemerkt, den Bus zu verlassen. Auf dem Weg zur Damentoilette begegneten ihr zwei Polizisten in Zivil, die sie mit einer Pistole bedrohte. Die Frau wurde entwaffnet und festgenommen - statt sie wieder in den Bus steigen zu lassen, um die Entführer nicht zu verunsichern.

Auf der Bremer Pressekonferenz der Polizei wurde gestern behauptet, die Frau sei sofort freigelassen worden, nachdem die Entführer es gefordert hatten; dies ist aber schlicht nicht wahr: Gegen 22.45 Uhr wurde die Frau in Knebelketten in ein Polizeifahrzeug gesetzt. Als ein Journalist den Körper des tödlich verletzten italienischen Jungen aus dem Bus zog, war es 23.12 Uhr. Bis dahin war die Frau noch nicht wieder im Bus. Erst nach den tödlichen Schüssen wurden die Geiselnehmer ernster genommen und die Frau schließlich freigelassen.

„Ein Mensch ist erschossen worden, weil die Polizei versagt hat“, stellte auf der gestrigen Pressekonferenz ein Augenzeuge fest. Eine Einsicht, zu der inzwischen auch die Polizei selbst gekommen zu sein scheint: „Sicherlich zu recht, diese Vermutung“, rutschte es dem Beamten, der die Pressekonferenz leitete, heraus.

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