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Keine Zeit

■ Der Mythos vom Ende der Arbeitsgesellschaft

Neulich hatte ich mir etwas Zeit genommen, um in der soziologischen Arbeit meines Freundes Hans „Das Ende der Arbeitsgesellschaft“ zu schmökern. Prompt werde ich vom Telefon aus der Lektüre gerissen. Mein Mitbewohner Christoph ist es. Ehemals Lebe- und Genußmensch, gelassen, stets voller unkonventioneller Ideen, immer bemüht, den Alltagsstreß minimal zu halten. Ob ich ihm einen Gefallen tue? Ich lehne ab, ich habe keine Zeit.

Er läßt mich jedoch keineswegs wieder in die spannende Arbeit versinken. Er besteht darauf zu erfahren, wie es mir geht. Ich antworte mit einem zeitsparenden „Danke, gut“ füge mich dann aber doch in die obligatorische Gegenfrage: „Wie geht's Dir denn?“ Ein Fehler, denn jetzt sprudelt es aus dem gestreßten Alternativ-Radio-Mitarbeiter heraus: Er habe so irrsinnig viel zu tun. Die unbearbeitet herumliegenden Aufträge, die vielen Sendungen, und überhaupt habe er keine Zeit. Das Telefonat dauert schon eine halbe Stunde.

Das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ ist längst vergessen. Mir fallen nun selbst längst überfällige Recherchen ein. Nach einer weiteren halben Stunde unterbricht Christoph das Gespräch: Er hat nun keine Zeit mehr.

Auf meine Lektüre kann ich mich nicht mehr konzentrieren und rufe deshalb meine Freundin Anna an, ob sie Lust hat, Kaffee trinken zu gehen. Anna trägt sich mit dem Gedanken, ihr Studium abzubrechen. Aber sie muß noch in eine Vorlesung, die sie zwar langweilig findet, aber man kann ja nie wissen. Außerdem ist sie auf Jobsuche. Sie braucht zwar momentan kein Geld, aber auch das kann man nie wissen. Jedenfalls hat sie keine Zeit. Also krame ich meine Lektüre wieder hervor. Kurz darauf ruft mein Freund an, um mir mitzuteilen, wieviele Akten er noch bearbeiten muß. Es sei gar kein Ende abzusehen. Er macht's kurz. Er hat keine Zeit.

Nun mache ich aber auf den Weg in die Redaktion meiner Zeitung. Der zuständige Redakteur hat keine Zeit, sich meinen Artikel anzusehen. Aber er hat Zeit, sich mit mir über neue, spannende Themen zu unterhalten. Das ließe sich endlos fortführen. Aber ich habe keine Zeit mehr. Irrsinnig viel zu tun.

Gitta Düperthal

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