: Zaudern als Beruf
Es war einmal eine Zeit, in der man die Bäume der Erkenntnis noch an ihren Früchten erkennen konnte. Die Fronten zwischen Aufklärung und Dunkelmännertum, zwischen der Ermunterung zum Verstandesgebrauch und der Warnung vor seinem zersetzenden Licht waren noch klar. Und die Göttin der Philosophie, die den Zweifel als Königsweg des Erkenntnisfortschritts inthronisiert hatte, war die Kritik, die „kritische Kritik“, die sich von keiner Mahnung zu demütiger Selbstbescheidung den Willen zum Wissen nehmen ließ.
Das ist lange her. Die Aufklärung ist in Verruf geraten. Die Dompfaffen jeder Sorte pfeifen ihre Dialektik von allen Dächern. Der Rückgang aus selbstverschuldeter Mündigkeit wird freimütig offeriert. Und der Fortschritt der Wissenschaften ist ganz ohne Frage so fragwürdig geworden, daß sich auch der Glaube an ihn - zu schweigen von allem anderen - auf den selbstverschuldeten Untergang zubewegt.
Zweifelhaft geworden ist aber nicht nur das Wissen, sondern auch die altehrwürdige Skepsis, die uns unter den philosophischen Tugenden immer die wichtigste zu sein schien. War sie einst das wirksamste Mittel gegen die von keiner Gedankenblässe angekränkelte dogmatische Selbstgewißheit der Maacht, so ist sie heute unverhofft zu ihrer Erfüllungsgehilfin geworden. Denn wo immer gegen die Effekte der technokratischen Zivilisation irgendetwas getan werden müßte, was irgendwelchen Interessen zuwiderlaufen könnte, da sind die Interessenvertreter und ihre wohldotierten Gutachter schnellstens mit ihrer wahrhaft abgrundtiefen Skepsis bei der Hand. Ob nun bei der Ozondurchlöcherung oder der Waldvernichtung, bei der Lebensmittelverseuchung oder der Leichenproduktion im Straßenverkehr, da runzelt der berufsmäßig zaudernde Experte bedenklich die Stirn und greift bereitwillig jede noch so kleine Unbekannte in unseren Wahrscheinlichkeitsrechnungen auf; da wartet er verantwortungsbewußt alle noch ausstehenden Groß- und Kleinversuche ab; da weiß er als neuer Sokrates nur, daß er noch nicht weiß. Mit einem Wort: Verzögerung ist das Gebot der Stunde. Und nichts besorgt so gut dieses Geschäft wie die auf den Hund gekommene Skepsis, der verabsolutierte Zweifel, der nicht eher handelt, als bis er ganz genau Bescheid weiß, gerade weil er ganz genau weiß, daß er gar nicht Bescheid wissen will.
Manager, die sonst die hohen Einsätze lieben, mausern sich überraschend zu bedächtigen Grüblern. Macher, die es gewohnt sind, ohne Wenn und Aber zuzupacken, geben sich plötzlich gedankenreich und tatenarm. Technokraten, die üblicherweise die Restrisiken gerne vernachlässigen, gehen auf einmal überaus zurückhaltend mit ihnen um. Politiker, denen der Wille zum Wissen eigentlich nicht in die Wiege gelegt schien, lechzen nach der unumgänglichen zusätzlichen Information. Ja, selbst Endlagerer, die in der Regel so genau über alle zukünftige Geschichte informiert sind, daß sie mühelos die Garantien für die nächsten Erdzeitalter übernehmen können, beziehen in allen anderen Fragen begierig die Zwischenlager des bloß provisorischen und vorbehaltlichen Wissens.
So macht das Wissen wohltätig Feige aus uns allen. So dürfen wir uns im Schutz der neuen Skepsis mit der beruhigenden Erkenntnis trösten, daß es für jedes Gutachen ein Gegengutachten, für jede Wirkung vielleicht noch eine andere Ursache, unter allen Umständen aber für jede peinliche Gewißheit einen begründbaren Zweifel gibt. Und so ist er, statt wie einst versteinerte Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, zum großen Verhinderer geworden: „Molto ritardando“ ist das Tempolimit, dem gemäß er sich nicht bewegt.
Allerdings wird sich unter diesen Umständen auch die Gegenseite etwas umstellen müsssen. Der Jugendverführer Sokrates wird sich nicht mehr mit dem Nichtwissen zufrieden geben können. Und die Aufklärung wird sich an die gewiß höchst unvertraute Situation gewöhnen müssen, daß eine Klasse von berufsmäßigen Skeptikern sie, ausgerechnet sie, der sozusagen „finsteren“ Entsschlosssenheit bezichtigt. „Sapere aude!“ wird wohl noch ihre alte Maxime sein. Doch sie wird sie übersetzen: „Mache ohne Verzug von deinem eigenen Verstand Gebrauch!“
Ludger Lütkehaus
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