: Eine Nation blickt durchs Fadenkreuz
■ Gladbeck allerorten: in Parlamenten, an Stammtischen und in den Fernsehstuben
Jeder meldet sich zu Wort, aber auch den Liberalen fällt meist nur die Frage ein: Warum wurde nicht viel eher ein gezielter Todesschuß praktiziert? FDP-Rechtsexperte Baum ruft gar nach einer Nachrichtensperre, wie es sie im Deutschen Herbst vor zehn Jahren gab. Doch kaum jemand denkt, wie Manfred Such von den Kritischen PolizistInnen, darüber nach, ob man die Bankräuber nicht lieber hätte laufen lassen sollen - bis zur Freilassung der Geiseln.
Die Ränge der Bremer Bürgerschaft waren mit Fernsehkameras und Reportern überfüllt, als gestern morgen der Innensenator ans Mikrophon treten mußte, um die polizeiliche Einsatzstrategie bei der Verfolgung der Gladbecker Bankräuber zu erläutern. Er wolle sich einer „kritischen Öffentlichkeit stellen“, versicherte Meyer, und „alles in meiner Kraft stehende tun“, um die offenen Fragen zu klären. Die Bremer Polizei habe ihn dabei „in beispielhafter Weise unterstützt“.
Einigermaßen sprachlos mußten die Abgeordneten dann wenige Minuten später erfahren, daß ein von Meyer eingeräumter „schwerer Fehler“ zum Tod des 15jährigen Bremers geführt hat: Entgegen früheren Behauptungen hat das vorläufige gerichtsmedizinische Gutachten ergeben, daß die direkten Folgen der Schußverletzung möglicherweise „ärztlich beherrschbar“ gewesen wären. Der Schwerverletzte ist, so teilte der Senator mit, an eingeatmetem Blut oder dem hohen Blutverlust gestorben. Das hätte von Ärzten eventuell verhindert werden können. Wenn es stimme, daß der Junge 15 bis 20 Minuten unversorgt in Rückenlage geblieben ist, hätte eine Rettung möglich sein können.
Warum der Bremer Linienbus über 20 Minuten an der Haltestelle in Sichtweite der Bankräuber stehen blieb, bevor er gekapert wurde, ist weiterhin ungeklärt. Die Bremer Straßenbahn-AG bestreitet nach wie vor, sie habe von der Polizei eine klare Anweisung zur Räumung der Haltestelle bekommen.
Der Bremer Innensenator Meyer widersprach in der Sitzung der Bürgerschaft der Auffassung, die Bremer Polizei hätte früher eingreifen können, wenn im Polizeigesetz des Landes ein „finaler Rettungsschuß“ vorgesehen wäre. Auch nach dem Bremer Gesetz könne die Polizei schießen mit dem Ziel zu töten, wenn das Leben der Geiseln unmittelbar gegen das der Geiselnehmer abgewogen werden müsse. Doch diese Situation habe sich so in Bremen zunächst nicht gestellt.
Mit drängendem Unterton wollte der Vorsitzende der oppositionellen CDU-Fraktion, Reinhard Metz, von der Regierung wissen, ob es richtig sei, daß niedersächsische Präzisionsschützen um Feuererlaubnis gebeten hätten, daß die Bremer Einsatzzentrale den gezielten Todesschuß aber verboten habe. Der Bremer Bürgermeister stellte sich daraufhin hinter seinen Innensenator mit der Bemerkung: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Es sei richtig, daß es keinen Schieß-Befehl gegeben habe.
„Wenn man den gewaltsamen Weg nicht will, muß man den der Kommunikation umso effektiver nutzen“, meinte der CDU Politiker Metz in derselben Rede. Daß dieser Weg nicht konsequent gegangen worden ist, warf der Bürgerschaftsabgeordnete der Grünen, Martin Thomas, der Bremer Einsatzleitung vor. Die „unverzeihlichen Pannen“ seien die „logische Konsequenz des gesamten Einsatzkonzeptes“, das eben nicht den „Schutz der Geiseln aus ethischen und humanitären Gründen an die erste Stelle gesetzt, sondern auf den starken Staat gesetzt hat, der in diesem Fall Flagge zeigen muß.“
Martin Thomas warf der Polizei die Festnahme der Komplizin Marion Löblich als „katastrophale, ja tödliche Fehlentscheidung“ vor, denn das habe zur Erschießung des italienischen Jungen geführt. Spätestens nachdem die 30 Geiseln in der Gewalt der Bankräuber waren, hätte man in deren Interesse darauf verzichten müssen, über lange 15 Minuten auf die Festnahme der beiden Bankräuber zu setzen. Zumal die Bankräuber sich schon vorher durch fehlende Verhandlungskontakte „zunehmend in eine Falle gelockt fühlten“, habe das lange Festhalten der Frau zu einer „unkalkulierbaren Gefährdung der Geiseln“ und schließlich zum Schuß auf den 15jährigen geführt. „Die Polizei ist an seinem Tod mitschuldig“, sagte er. Es sei der Eindruck entstanden, daß es mehr um die Ergreifung der Täter und die Wiederbeschaffung des Geldes als um die Geiseln ging.
Die Debatte des Bremer Parlaments dauerte bei Redaktionsschluß noch an.
Klaus Wolschner
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