: Die Nacht, da sie verraten ward
■ Carlo Lizzanis Bucharin-Film „Lieber Gorbatschow“ auf der Biennale in Venedig
Arno Widmann
Keinen, der 1968 erlebt hat, wird dieser Film kalt lassen. Dachte ich, als ich aus dem Kino kam. Bucharins letzte Nacht mit seiner Frau, die Nacht des 28. Februar 1937, die Nacht, in der er darauf wartet, von der Stalinschen Geheimpolizei, die bis vor kurzem auch die seine war, abgeholt und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Carlo Lizzanis Film schildert fast ausschließlich die Ereignisse dieser Nacht. Dazu eine kurze Einleitung, ein paar Rückblenden und ein knapper Epilog: Dinge, auf die ich gerne verzichtet hätte.
Aber dieses Kammerspiel Revolutionsgeschichte. Nikolai Bucharin (Harvey Keitel), der weiß, daß er nicht wiederkommen wird, der mit seinem Tod rechnet, läßt seine junge Frau Anna Larina (Flaminia Lizzani) einen Text auswendig lernen. So soll einer zukünftigen Generation von Bolschewiki seine Sicht der Dinge überliefert werden. Anna Larina wehrt sich gegen gar zu scharfe Formulierungen. Sie will noch Fehler sehen, wo Bucharin Verbrechen erkennt. Sie diskutieren, streiten. Sie tun es mit den Wörtern, über die sie verfügen: „Mittelbauern“, „Proletariat“, „führende Rolle der Partei“.
Unsere Kolumnistin Marcia Pally (ebenfalls Biennale-Gast) meint, der Dialog hätte eine tüchtige Umarbeitung nötig. Sie mag recht haben, aber auf mich hat er gerade mit diesem Vokabular gewirkt. Besser wäre nicht besser, sondern schlechter gewesen. Bucharin spricht wie ein Parteitagsredner. Er ist schließlich jahrzehntelang einer gewesen.
Auch die junge Frau, aufgewachsen in einer bolschewistischen Familie, hat keine anderen Wörter zur Verfügung. „Proletariat“, das nimmt im Gefühlshaushalt der Revolutionäre den Platz ein, den bei Heines Fräuleins der Sonnenuntergang besetzt hält. Die „Partei“, das ist kein Verein, dem man mal wählt, mal nicht, sondern eine Entscheidung auf Leben und Tod. Die Wörter, die so unüberhörbar falsch klingen, hölzern, unerträglich, sie haben Massen bewegt. Mehr als die schönsten Verse, mehr als die klarsten Sätze. Das erzählt Lizzanis Film.
Ein pessimistischer Film. Ein Film vom Scheitern der Revolution, von einer der Nächte, da sie verraten ward.
Bucharin kämpft nicht um seine Existenz, er vermeidet auch nicht zukünftigen Schmerz und springt aus dem Fenster. Er macht sich bereit zum Sterben in der Gewißheit: Mein Tod ist Weltgeschichte. „Wisset, Genossen, daß auf der Fahne, die ihr in siegreichem Marsch zum Kommunismus tragt, auch ein Tropfen meines Blutes ist.“ Pompe Funebre wie von Tschaikowsky. Lizzani macht deutlich, wie falsch dieses Pathos ist. Er läßt Bucharin wissen, daß der Weg verkehrt ist, aber er läßt Bucharin weiter an ihn glauben.
Zwischen den Wörtern aus dem ABC des Kommunismus Geräusche, ein Schuß, Klingeln an der Tür, das Telefon. Spannungselemente wie in einem jener englischen Krimis, die ohne das Knarren alter Dielen nicht auskommen. Mehr zu viel als zu wenig. Lizzani hat seine Schauspieler unterschätzt. Die hätten das auch alleine geschafft. Meine Aufregung kam nicht vom Klingeln des Telefons, nicht vom Auf und Ab des Farhstuhls im Treppenhaus, sondern vom Wechsel der Gefühle der beiden, von den Spannungen zwischen ihnen. Bucharin war sich seiner Frau nicht sicher. Was mußte die junge Frau, die nicht weiß, wie es in den entscheidenden Gremien einer revolutionären - also einer über Leichen gehenden - Partei zugeht, von ihm denken, wenn er sich gegen die Parteiführung stellte? Warum sollte sie ihm und nicht der Partei glauben?
Lizzanis Film erinnert an die großen Worte, an das Pathos der Menschheitsbeglückung, ohne ihm zu verfallen. Ich mag auch das an ihm. Inzwischen fürchte ich das Schlimmste, wann immer ich diese Sprache höre; aber mit Leuten, die den Verzicht auf die Sache selbst zu ihrer Maxime gemacht haben, kann ich noch immer nicht reden. Ich habe noch niemanden getroffen, dem Lizzanis Film gefallen hat. Die Zeitungen sind voller Verrisse. Der Kollege von 'Il Manifesto‘ schreibt, Anna Larina vor der Fernsehkamera sei ergreifender als Flaminia Lizzani im Film. Er mag recht haben. Aber: Anna Larina hat mich an die Geschichte Bucharins erinnert, Lizzanis Film an meine eigene.
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