: Vom Traum zum Schlamm
■ Die Gedichte Pascolis und D'Annunzios auf die Adria lassen sich nur noch als Abgesang lesen
Enzo Sicilano
Die Adria liegt im Todeskampf. Von den oberen Rändern der Abruzzen bis zu den friaulischen Stränden hat sie sich in eine riesige Grube und schlammige Masse verwandelt. Das Leben darin schlägt ins Gegenteil um: schlüpfrige, übelriechende Algen, die alles verschmutzen und den Sauerstoff aufzehren. Das Meer ist nicht mehr.
Die Natur läßt uns vor Scham versinken. Aber nicht so tief und radikal, daß wir sofort gegen die Taten revoltieren, mit denen wir die Natur töten.
Ich habe Erinnerungen an eine andere Natur, an ein anderes Meer; doch vor denen, die sie nicht haben, schäme ich mich auch, sie auszusprechen. Eine diffuse Rhetorik interpretiert die Nostalgie als Ausdruck unseres schlechten Gewissens. In der Tat: Wir haben sehr wenig getan, um zu verhindern, was jetzt geschieht.
In den letzten 20 Jahren haben wir uns von der Natur immer mehr entfremdet. Eine geradezu biblische Torheit liegt in allem, was wir getan haben, um uns von ihr zu entfernen, um sie zu töten. Und infolgedessen uns zu töten. Die Parasiten, die die Substanz des Meeresplanktons zersetzen und es zerstören, sind vom Menschen geschaffen. Nicht der Schatten eines bösen, unabwendbaren Geschicks ist da zu beschwören, kein Zorn des Himmels, der sich über das unschuldige Opfer Mensch entlädt. Das Übel erwächst diesmal in schnellen Schüben in einem enggezogenen, geschlossenen Zirkel. Vom Menschen geht es aus, dessen Gier und Vermessenheit anscheinend durch keine Vernunft zu zügeln ist, und zum Menschen kehrt es wie ein Bumerang zurück. In der Praxis erweist sich der Fortschritt als tödliche Infamie.
Als prüde alte Jungfern, Kassandras auf Vorstadtmärkten, verlachte man die „Apokalyptiker“ vor 30 Jahren. Heute stirbt das adriatische Meer, und uns bleibt nichts anderes, als diesem Trauerspiel zuzusehen; oder zaghaft zu versuchen, dem Kollaps durch ministerielle Verfügungen Einhalt zu gebieten.
Dabei gehört dies „tiefblaue“ Meer fest in die Tradition unserer Dichtung. Die Adria vor Ravenna ist das Meer von Dante. „Tiefblau“ ist die Farbe, die die empfindsamen Dichter am häufigsten nannten. Wir wissen, die Adria war ein Meer der zarten Töne, der Farben der Morgendämmerung, nicht des strahlenden Lichtes wie über dem tyrrhenischen Meer im Westen. Es war das Meer von Pascolis „Fischerbooten“.
Pascoli hatte Leopardis Unendlichkeit auf häusliches Maß zurückgenommen. Die romantische Exaltiertheit des Dichters aus Recanati wurde bei Pascoli zu schüchterner Vertraulichkeit. Und das Meer, die Adria, ist der unendliche Raum, auf den er anspielt: das übermenschliche Schweigen, das sich über den schicksalhaften „Wall“ breitet, der letzte Horizont, der „von vielen Seiten...den Blick versperrt“. Im hellblauen Leuchten dieses Meeres, gesehen vom Hügel bei Recanati, erlitt die Imagination ihren imaginären Schiffbruch, den der „Wall“ des Horizontes versperrte, aber ahnen ließ.
Vertrauensselig hat er sich diesem Horizont angenähert. Das sagt er in „Romagna“: Als Junge hatte er sich daran gewöhnt, „lange“, „unvollendete“ Gedichte zu ersinnen, die „wunderbar zu träumen“ waren, getragen von einer klingenden Wolke, in der sich das „Rauschen von Zweigen, Zwitschern von Vögeln / Lachen und Frauen / Tosen des Meeres“ vermischten. Das Meer wurde Teil der „Muttersprache“, die ihn die Poesie lehrte.
„Ich blicke aus dem Fenster und sehe das Meer / die Sterne ziehen, die Wellen zittern. / Ich sehe Sterne vorbeiziehen, Wellen vorbeiziehen: / Ein Zucken ruft, ein Klopfen antwortet.“ Voller Chimären war dieses Meer. „Da seufzt das Wasser, atmet der Wind: / Über dem Meer ist eine schöne silberne Brücke erschienen. / Eine Brücke, die heitere Seen überspannt / Für wen bist du gemacht, wo beginnst du?“
In seiner metaphysischen Verwirrung sah Pascoli Bilder der Arbeit aufblühen: Die Menschen entwarfen Dinge, entwarfen die Natur selbst. „Fischerboote auf hohem Meer / blendendweiß / sah ich zucken / als wären sie müde: / Oh, Hoffnung, Flügel der Träume / für das Meer.“
In einem der verzückten Gedichte, die er in „Myricae“ zusammenstellte, „Die Sturmtaucher der Adria“, ist das Leben dieser Gewässer auf ihr unglaubliches Gekreisch bezogen. Auch hier liegen die Fischerboote still, wiegen sich im „lackglatten Meer“, „sich abhebend im Gold und im Feuer“ einer „hellblauen sommerlichen Morgendämmerung“. In der Luft jedoch ein unbestimmbares Tosen, Zeichen der Unendlichkeit: „Die reine Stimme bringt den Hauch des Südwestwinds / mit müßigem, zitterndem Lachen / die Sturmtaucher sind es: Auf den stummen Wellen / schwebt jenes morgendliche Geplauder / wegen der matten Ruhe / scheinen es laute Stimmen / von Matrosen.“ Die Sturmtaucher, die aschgrauen Elstern der italienischen Meere: Ihr Geschwätz verliert sich im grenzenlosen hellblauen Raum. Das ist das Leben, das Pascoli in all seiner unberührten Jungfräulichkeit und Reinheit erschien: Reinheit des Lichtes, der Farben; eine Reinheit, die, bei aller Existenzangst, sozusagen das Zeichen eines religiösen Verhältnisses zur Natur war. In der Imagination Pascolis lag etwas Geisterhaftes; und doch pulsierte das Leben darin, nahm ein stilles Rauschen darin auf.
Vom Leben auf diesem Meer fühlte sich auch D'Annunzio angezogen. „Ich denke an die Fischer von Pescara, die mit den schönen, bemalten Fischerbooten ausfahren, vor dem Morgengrauen, im Nordwestwind, den Geschmack von Salz im Munde.“ Für D'Annunzio ist die Adria das Meer der Erinnerung an die Jugend; oder auch das Meer kriegerischer Heldentaten. „Wieder kommt mir der Ekel in den Sinn, den ich in meiner Jugend einmal verspürte, als ich in der Adria schwamm und aus den Wellen, wenige Armlängen von meiner nackten Brust entfernt, den dunklen Rücken eines Delphins auftauchen sah.“ Ein Ekel, der ihm im Traum wiederkehrt, während seine Augen „brennen, wie wenn der Schaum der Dünung gegen das Gesicht klatscht“.
Das Meer des Krieges sieht er vom Torpedoboot aus, bei Angriffsaktionen im Morgengrauen. „Das Meer verdunkelt sich; aber in seinem beschleunigten Pulsieren fühlt man schon das nächtliche Phosphoreszieren. Die gekräuselte Oberfläche schimmert da und dort von einem inneren Licht, wie ein zuckendes Lid, das einen geheimnisvollen Blick entfliehen läßt. Der junge Mond ist wie eine Handvoll brennenden Schwefels.“
Die Adria war für D'Annunzio das Meer der mütterlichen Heimat; er empfand darin eine menschliche Heiligkeit, wie in dem Klagelied für den „Matrosen von Ortona“, den 20jährigen, bäuchlings auf den Dielen ausgestreckten halbnackten Toten aus „Notturno“: „Sein armseliges Fleisch ist mein armseliges Fleisch. Seine Standhaftigkeit im Leiden ist die Standhaftigkeit meiner Mutter, meiner Landsleute...“ Und dieses Meer ist auch das Meer der „Hirten“ im September: „Meine Hirten / verlassen ihre Pferche und ziehen zum Meer: / steigen hinab zur wilden Adria / die grün ist wie die Bergweiden.“
Die wilde Adria ist auch das sanfte „Heimatmeer“ von Saba: „Ich war allein am Meeresstrand / am blauen Heimatmeer / Ich dachte, meine Liebe, an dich / an dich fernab auf dem Lande / Am Abend, im Meer / fiel rasch der goldene Stern / von Welle zu Welle einen goldenen Bach / man aufblitzen sah...“
Dieses Meer liegt im Sterben. Als Erinnerung daran möge bleiben, was uns seine Dichter hinterlassen haben.
Aus 'Corriere della Sera‘ vom 24.8.1988; Übersetzung: Michaela Wunderle
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