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DRACHEN STEIGEN LASSEN

■ „Höhenflug“ des Teatr Osmego Dnia in der UFA-Fabrik

Zuvorkommend wird man zu einer Tafel geleitet, nimmt Platz und findet sich vor einem aus Brettern zusammengenagelten Tisch wieder. Baracke, Straßenbau, Sandschippen, Schuften, egal ob Sonne oder Regen, Lager. Man sucht nach Blechtassen und -näpfen - und findet am Ende der Tafel einen Mann in einem abgewetzten, viel zu großen Mantel, zusammengesunken über einem schäbigen Koffer, dort wo man gerade eben vorbeigelaufen ist. Dann auf der anderen Seite, oben im nebulösen Dunkel, auf der Bühne, erklingt Musik, nur eine Violine und zwei Gitarren und Ewa Wojciak, die Gedichte von Ossip Mandelstam singt.

Ossip Mandelstam - der Name dieses sowjetischen Dichters löst in Polen gleich eine Fülle von Gedanken aus, und deshalb möchten offizielle Ohren diesen Namen nicht gern hören: Die polnische Zensurbehörde machte dem Teatr Osmego Dnia unter anderem die Auflage, seinen Namen nirgendwo zu nennen. In den dreißiger Jahren verfaßt er irgendwann einmal ein bitterböses Schmähgedicht gegen Stalin und liest es im engsten Freundeskreis vor.

Auf der Bühne wird es wieder dunkel. Hinter Ossip Mandelstam (Tadeusz Janiszewski) ist aus der Finsternis eine uniformierte Person in Schaftstiefeln (Barbara Theobaldt) aufgetaucht. Schlangenhaft gleiten ihre Hände über ihn hinweg, bis sie plötzlich in einer jähen scharfen Bewegung in seine Jackentasche greifen und das Schmähgedicht herausreißen. Ossip Mandelstam wird verhaftet. Die Uniformierte macht sich über den Inhalt des Koffers her, und ein Kerl mit Schiebermütze und zerrissenem Mantel (Adam Borowski) notiert ihre Angaben, und im Handumdrehen kippt die Stimmung um in rauhen Humor: Die beiden haben Schwierigkeiten mit der Tatsache, daß sich zwar zwei Socken im Koffer befinden, aber kein Paar, sondern zwei verschiedene, wobei die Uniformierte einen Löffel und „eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit“ verschwinden läßt. Adam Borowski spielt den einfachen Mann, der Augenzeuge, Wächter, Tatbeteiligter, Mithäftling ist, vierschrötig, gerissen, pfiffig, verschlagen, komisch, naiv und immer entwaffnend direkt. Er und Barbara Theobaldt - als Polizistin, Erzählerin, Berichterstatterin, Kommentatorin sind ein ganzes Ensemble.

Die Inszenierung, zusammengefügt von Lech Raczak, kommt mit wenigen technischen Mitteln aus, kein Schnickschnack, nur eine genaue Lichtführung und genaues Spiel, welches einen genau dorthin führt, wo es weitergeht. Viele der Texte und Gedichte Ossip Mandelstams und alle Lieder sind in Polnisch. Obwohl man einige hinterher übersetzt im Programmheft nachlesen kann, wird man das Gefühl nicht los, daß einem irgendetwas entgeht, wenn man die Sprache nicht versteht. Aber so schlimm ist das eigentlich gar nicht. Man beginnt, auf den Klang der Sprache zu hören; in Tadeusz Janiszewskis Gesicht ist zu lesen, wie Ossip Mandelstam bis zuletzt in verdichteten Träumen und Hoffnungen gegen die Schwermut und die Hoffnungslosigkeit ankämpft, in den Gesichtern und den Stimmen von Adam Borowski und Barbara Theobaldt spiegelt sich die Wirkung von dem, was er sagt, wider. Und die Musik: die Fahrt in die Verbannung Komponist Lech Jankowski läßt dem Gesang nur die Violine und da auch nur zwei Töne, aus denen Katarzyna Kleba dann alles herausholt, was noch möglich ist.

Und dann steht man wieder draußen vor der Tür und sieht sich die Fotos aus Polen an, zerbröselnder Altbau, häßliche Neubauten, einfache Gemütlichkeit, der lächelnde alte Mann vor der Trümmerlandschaft, der Priester, der die Zunge heraussteckt... In der U-Bahn denkt man sich, wie anders das hier ist, hochglanzpoliert, steril und dabei nach Pisse stinkend. Die letzte Szene des Stücks, das so traurig ist, weil Ossip Mandelstam schließlich zugrunde geht, fällt einem ein, ein bunter Drachen steigt aus seiner Hand, steigt immer höher auf, getragen durch einen Geigenton - und man wünscht sich, aus der hochglanzpolierten, sterilen, stinkenden Langeweile auch so aufzusteigen.

Michael Vahlsing

„Höhenflug“ noch bis zum 4.September jeweils um 21.30Uhr im Kino-Saal1 der UFA-Fabrik, Viktoriastraße 13, 1-42

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