: Zeitgeist beats Ethno
■ Am Donnerstag chorsang das Mysterium der bulgarischen Stimmen vor jubelkieksender Szene in der Schauburg: Zeitgeist-Folklore für den „Tempo„-Leser
„Geht's hier zum Fischer-Chor für Alternative?“ fragt mich ein Bekannter auf dem Weg in die ausverkaufte Schauburg. Wie ironisch das auch immer gemeint gewesen sein mag, so drückt sich darin doch auch die berechtigte Skepsis darüber aus, welche Motive Hunderte von Eintrittskartenkäufern derzeit in die Konzerte des bulgarischen Frauenchors „Le Mystere des Voix Bulgares“ treiben. In Berlin waren es 1400, Bremen blieb mit gut 400 Zuhörern seiner Rolle als Kulturprovinz treu (ehrenhalber muß gesagt werden, daß es wohl mehr gewesen wären, hätte man einfach auf einen anderen, nämlich größeren Veranstaltungsort zurückgegriffen).
Der Zeitgeist rief: Trendpostille Tempo gehört zumindest per Logo zu den Förderern der 88er Tournee. Und fast alle kamen: Kultur-Schickeria, Trendsetter und nachläufer, Viertel-Szene und natürlich die, denen es schon immer wichtig war, sich in ihrem Musikgeschmack deutlichst von dem der Masse zu unterscheiden.
Nur die waren wegggeblieben, die in der weihevollen Akustik der Kirche Unser lieben Frauen schon im letzten Dezember bürger-andächtig gelauscht hatten. Die Durchmischung der Publikumsschichten gelingt halt nur in Einbahnstraßenmanier (wenn die Szene sich mal in Richtung Glocke, Kirche oder ähnlich Fein
bürgerlichem aufmacht).
Bei der Trend-und-Szene-Publikums-Zusammensetzung vom Donnerstag kein Wunder, daß es zu so mancher Merkwürdigkeit kam: keine Rede davon, daß man Stecknadeln hätte fallen hören können. Es wurde zumindest zu Beginn eifrig geflüstert und getuschelt. Sie sind aber auch zu niedlich, die 24 in Trachten gekleideten Bulgarinnen. Und daß ein Dudelsack auch gespielt werden kann, ohne daß man permanent hineinbläst, löste selbst bei der dritten Vorführung noch ungläubiges Gemurmel bis befremdetes Gelächter hervor.
Höhepunkt der Unbeholfenheit war die Tolpatschigkeit, mit der sich einige nach der etwas zu kurz geratenen Pause wieder auf die Schauburg-Plätze begaben, teilweise über die Bühne tappend, auf der bereits wieder filigrane
Stimmsätze im Chor exerziert wurden.
Trotzdem kamen die Gesänge prächtig an. Die immer mal wieder eingestreuten Kiekser, die mehrstimmigen Sätze, die hart an die Schmerzgrenze gehen, die ungalublichen Variationen des Stimmvolumens, die Präzision, die erstaunlicherweise meist ohne Dirigenten auskommt, das Spiel mit den Obertönen - das Mysterium enthüllt sich nicht wirklich, es deutet sich nur an.
Auch wenn manche Stücke fast unangenehme Süße ausstrahlen: die wird immer durchbrochen von Melodien und Rhythmen, die wie messerscharfe Pfeile ins Ohr dringen.
Am Schluß dann Jubelkiekser zur Abwechselung einmal aus dem Publikum und Standing Ovations. Die Szene feiert exotische Stars. Wie lange?
JüS
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