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Moskauer Grau

■ Scheinbar nicht von der Politik, sondern von Farben und Tönen, von der rätselhaften Beschleunigung Moskauer Warteschlangen und vom Telefonieren als moskowitische Daseinsform handeln Karl Schlögels jüngste Notizen aus der Hauptstadt der UdSSR

Karl Schlögel

Wir wechseln die Zeitgrenze. Wir lernen, daß es keinen Sinn hat, ungeduldig zu werden, wir fügen uns in eine neue Ökonomie der Zeit, von uns fällt die Ökonomie unserer Zeit ab. Wir steigen aus unserem Streß aus und empfinden Ungeduld als Phantomschmerz der verlorenen Zeit. Wir lernen einen neuen Rhythmus kennen. Das Taxi steht nicht einfach bereit, wir müssen es „fangen“, wir müssen vielleicht verhandeln und treten erst dann die Fahrt an. Wir steigen nicht einfach in einen Zug, sondern reservieren schon einige Tage oder Wochen im voraus, dafür haben wir einen Sitzplatz, aber wir haben schon Kraft verausgabt im Planen weit vor Reiseantritt. Wir reisen nur im Schlafwagen, weil sich anders die Distanz von Raum und Zeit nicht sinnvoll überwinden läßt. Wir fangen an, uns umzustellen, darauf, daß es sich kaum lohnt, zu Fuß zu gehen, weil die Abstände zwischen den Haltestationen der Busse oder der Metro zu groß sind; wir schätzen ab, wie weit es zu einem Freund ist, bevor wir ihn besuchen; wir fangen an, auf neue Weise mit unserem Kräftehaushalt zu rechnen. Zeitstufen

Wir sind gewohnt, uns in der Metro oder - vor allem - im Auto fortzubewegen. Das Auto hat eine Einheitszeit hergestellt, die Staus schon einkalkuliert. Dort stellen wir uns auf verschiedene Zeitstufen ein - nicht nur die Zeitstufen, die Zweistundenverschiebungen, in denen wir uns von mittel- über die osteuropäische zur pazifischen Zeit bewegen. Wir leben in einem Zusammenprall verschiedener Zeiten: inhomogener, unabgestimmter Zeiten: die der Hauptstadt mit der Metro und dem großartigen Bussystem, die der großen Magistralen für den Güterverkehr, die des Moskauer Rings mit seinen immer zu schnell fahrenden Autos, die Weglosigkeit des Dorfes in nächster Umgebung der Hauptstädte, die Zeit der Dreitagefahrt von Moskau nach Sverdlovsk, die Zugänglichkeit mancher Orte über Flugzeug und Hubschrauber, die Unzugänglichkeit riesiger Areale, in denen die Zeit überhaupt stillsteht und in denen es kein Vorwärtskommen gibt. Raum

Wir kennen den Raum nicht, und wer kennt schon den grenzenlosen Raum! Wir kennen Punkte, wissen aber nicht, was dazwischen ist. Darüber fliegen wir im Flugzeug hinweg oder durchqueren sie schlafend mit verhängten Fenstern. Wir kennen nur einzelne Räume, um Städte herum, vorzugsweise im europäischen Teil der Sowjetunion. Der Raum wird konstituiert durch die Gleichförmigkeit der Punkte: Moskau, Chabarovsk, Riga. Er wird konstituiert durch die Verkehrsadern. Aber natürlich gibt es diesen ganz anderen Raum: der jenseits der Punkte und jenseits der Verkehrsadern liegt. Es gibt ungeheure Räume im Abseits, von Moskau weiter entfernt als Moskau von Berlin oder Leningrad oder Prag, nicht im Kilometersinne. Moskau - die Stadt

Wir kennen nur den Punkt Moskau, nicht den Raum, wir kennen ein Land aber erst, wenn wir das flache Land kennen. Da wir dieses nicht kennen, kennen wir auch das Land nicht. Wer Moskau kennt, kennt Moskau, nicht das Land.

Moskau ist menschenvoll, alles scheint sich in der Stadt zusammenzudrängen. Das Leben Moskaus wird nicht nur von den Moskauern bestimmt, sondern von denen, die in die Stadt kommen, um dort zu erstehen, was es auf dem flachen Land nicht gibt. Und das ist fast alles: Fleisch, Wurst, Babyzeug, Schuhe. Wir kennen die Landflucht, die Entvölkerung des flachen Landes, nur aus Statistiken, aber die Flucht in die Stadt, die Millionen, die alltäglich nach Moskau einströmen, um zu kaufen - das kann man mit blankem Auge sehen.

Städte sind Versorgungspunkte, Inseln des Reichtums im Meer der Knappheit, Zusammenballungen von Kaufhäusern - während bei uns das flache Land in dieser Hinsicht wenigstens zur Stadt geworden ist, zu einer unendlich gleichförmigen Stadtlandschaft aus Supermärkten, Zeitvertreibanstalten, ohne die Vorteile der Abgelegenheit aufgegeben zu haben.

Aber die Acht-Millionenstadt kann die Ursprünge ihrer Bevölkerungsexplosion nicht verleugnen: Die Vorstädte sind in die Vertikale gebaute Dörfer; in den zur Zeit Chruschtschows gebauten Siedlungen mit den fünfstöckigen Wohnhäusern hat sich der Rhythmus des Dorfes, aus dem die Bewohner kamen, erhalten, es kommt vor, daß man sogar einmal einen Hahn krähen hört. Was der eine Nachbar macht, bleibt dem anderen Nachbarn nicht verborgen. Um es in einer Kurzformel zu auszudrücken: Die Moskauer Vorstadt, das ist Le Corbusier plus Massenzuzug vom Land in der ersten oder zweiten Generation. Fußgänger und Autos

Ein Fußgänger, der auf einem verbrieften Recht als Fußgänger gegenüber dem Automobilisten bestehen zu können glaubt, lebt in Moskau gefährlich. Die Stadt ist noch immer in der Etappe der primären Autmobilisierung, und das Selbstbewußtsein der Automobilisten ist das von Leuten, denen uneingeschränkt die Straße gehört. Nur da, wo die Fußgänger dicht an dicht noch die Herrschaft innehaben - wie an Kuzneckij most oder am Arbat, Altstadtvierteln also, die nun auch Fußgängerzonen werden - beugt sich der Automobilist dem unbewehrten Menschen. Für die Fußgänger gibt es Tunnels an bestimmten Brennpunkten, ansonsten müssen sie den rechten Augenblick abwarten und antilopengleich über die breite Straße jagend sich in Sicherheit bringen, wenn die Autos, einer Bisonherde oder einer Kavallerieabteilung gleich, über die Piste stürmen. Es hat keinen Sinn, sich zu empören, denn der Automobilist gehört vorerst noch einer anderen Klasse von Menschen an. Dies wird vermutlich auch so lange so bleiben, wie das Automobil als das Nonplusultra aller Fortbewegung gelten kann und sich nach dem Prinzip der Darwinschen Selektion gewisse Regeln des Kampfs ums Überleben im Straßenverkehr herausgebildet haben. Grau

Moskau ist grau, erscheint grau, auch wenn es funkensprühende Kirchen und glänzende Palais aufzuweisen hat. Unsere Reflexe laufen ins Aus. Wo wir gewohnt sind, große Reklamebilder zu sehen - in der U-Bahn, auf Brachflächen, an Häuserwänden - ist nichts als gähnende Weiße, Nacktheit. Wie wir gewohnt sind, im Zentrum einer Stadt ein kaum übersichtliches Gewirr von großen und kleinen Läden, von Cafes und sonstigen Etablissements zu sehen, stoßen wir auf eine gewisse Geordnetheit von Ensembles, wenn nicht Monotonie. Wo wir gewohnt sind, immerzu angespannt auf die Straße zu blicken wie ein guttrainiertes Tier, das sich seine Fährte suchen muß, und uns im Gewühl der Autos zu orientieren - da ist Leere, leere Fläche, an großen und wichtigen Plätzen, monumentale, einschüchternde Leere. Unsere Stadtzentren sind Zentren des Kampfes um den besten Platz der Selbstdarstellung und Selbstreklame, die Städte dort machen für nichts Reklame, sie machen Propaganda. Aber für die Propaganda ist ein ZK und ein entsprechender Apparat zuständig, die Reklame wird getragen von einer Industrie, und der mächtige Impuls, der sich in immer neuen raffinierten und modischen Wellen Bahn bricht, ist der Elementarimpuls aller Wirtschaft unserer Städte, das rote Propagandaplakat ist nicht einmal ein Kontrapunkt zum Grau, kann es mit der Welle der Reklame nicht aufnehmen. Es verschwindet fast unregistriert. Grau - ist auch das Sortiment, die Kleidung, die Einrichtung. So kommt es uns jedenfalls vor. Das Tempo der Schlange

Die räumliche Erstreckung ist nicht der einzige Grund für die durchschnittliche Alltagsgeschwindigkeit, in der Güter, Menschen, Gedanken transportiert werden oder miteinander in Beziehung treten. Die Verlangsamung des Tempos beziehungsweise die Eigenmacht der Zeit ist eine der rätselhaftesten Erscheinungen. Wodurch wird sie verursacht?

Das Tempo der Schlange resultiert aus verschiedenen Tempi, es ist die Resultante des Tempos der vielen Schlangen. Aus dem unterschiedlichen Tempo kann man sogar, wenn man sich darin auskennt, Vorteil ziehen. Sich in verschiedenen Schlangen gleichzeitig anzustellen. Man bittet jeweils den Vordermann, daß er sich an einen erinnere, und man ist dann wieder zur Stelle, wenn die Schlange bis zum Verkäufer vorgerückt ist. Es gibt wahre Meister, die gleichzeitig für Brot, Seife, Theaterkarten, eine seltene Torte etwa anstehen können, vorausgesetzt, sie sind nahe genug beieinander. Für die übrigen Schlangestehenden bedeutet dies, daß die Schlange in Wahrheit immer länger als sichtbar ist. Jede Schlange ist immer zugleich eine reale und eine fiktive. Wie lang sie wirklich ist, erfährt man nur durch Warten. Überholt werden die Wartenden von den ordensgeschmückten Veteranen, von Schwangeren oder Frauen mit Kindern, neuerdings auch von Vätern dreier Kinder. Eine Schlange offenbart, wer Durchhaltevermögen besitzt, wer Ausdauer hat. Schwankende Elemente geben oft auf halber Strecke schon auf und versuchen ihr Glück woanders. In den Schlangen zeigen sich Charaktere: der Ellbogenmensch und der Buchmensch, der sich sein Buch mitgebracht hat, um dem Stehen in der Schlange einen Sinn zu geben. Schlangen sind experimentelle Konfliktsituationen in Permanenz - und als Ernstfall. Wer das Tempo der Schlange beschleunigen und sie so zum Verschwinden bringen will, muß die Resultate im Auge haben. Der einfachere Weg - die Schlange umgehen, andere für sich Schlange stehen zu lassen, kurz: der Weg der Gewitzten oder derjenigen, für die Geld keine Rolle spielt oder die ihre eigenen Beziehungen haben - ist nur der Weg einiger weniger, die nicht ins Gewicht fallen. Arbeit, industrialisiert,

vorindustriell

Die sowjetische Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft, das entnehme ich den übervollen Vorortzügen früh am Morgen, dem Rhythmus, in dem sich die Menschen zwischen Wohnungen und Arbeitsstelle bewegen, und aus der Bedeutung, die der Arbeitsplatz in den Erzählungen und Gesprächen spielt. Man arbeitet dort nicht nur, dort gibt es Clubs, dort werden Kuraufenthalte abgemacht, dort werden Erholungsreisen vergeben, dort werden Lebensmittel ausgegeben, die sonst im Geschäft nicht zu bekommen sind, dort spielt sich ein größerer Teil des Lebens ab als bei uns. Die Betriebe und Institute sind in der Stadt als gesellschaftliche Einrichtungen präsent, nicht bloß als Produktionsstellen, sie sind imposante Gebäude mitunter, Museen, wenn es sich um wichtige handelt. Der Gedanke, daß Arbeit primär der Selbstverwirklichung diene, ist spät aufgekommen und mutet etwas wie Luxus an, nicht anders als einige Zeit vorher bei uns auch. Ich vermute, daß die Freundschaft zwischen Kollegen am Arbeitsplatz häufiger ist als bei uns und daß die Arbeitsstelle weniger strikt vom Privatleben getrennt ist als bei uns. Das Arbeitskollektiv ist etwas anderes als in den einschlägigen Lehrbüchern, aber daß es existiert als Solidargemeinschaft mit entsprechendem Schutz und entsprechenden Haftungen und als Hölle - steht außer Zweifel. Die lesende Verkäuferin

Das Leben kreist um die Arbeit, aber die Arbeit ist ein ziemlich diffuses Zentrum. Man kann sich ihr fügen - oder auch nicht. Man kann sich von ihr entfernen - das ist nicht sonderlich tragisch. Was dabei herauskommt, fällt in einen anderen Zuständigkeitsbereich. Ob das Produkt an den Mann gebracht wird, ist nicht Sache des Verkäufers. Auf aller Arbeit und ihren Produkten liegt der Abglanz der Gleichgültigkeit - dies bekommen vor allem jene zu spüren, die auf die Produkte letztlich angewiesen sind. Aber wie sieht es für diejenigen aus, die die Arbeit tun? Man kann aus der Leichtigkeit, mit der die Schilder „Ich bin kurz weg“, „Wegen Krankheit geschlossen“, „Geschlossen wegen Reparatur“ ausgehängt werden, darauf schließen, daß der Arbeitsgang in viel stärkerer Weise von Wollen und Nichtwollen, von Lust und Unlust bestimmt ist als von einer Disziplin, die von der Sache auferlegt ist. Nur der Held, der will, scheint ein guter Arbeiter zu sein. Arbeit ist beschwerlich, besonders da, wo sie noch so viel mehr physische Arbeit ist, aber man kann ihrem Druck ausweichen, die Arbeitsdisziplin ist eine äußerliche. Wo die Disziplin äußerlich ist, setzt sie leicht aus, sobald die Disziplinierungs-Autorität außer Sicht ist. Die Disziplin kapitalistischer Produktion hingegen geht durch den Arbeitsprozeß, alle Details, auf die Funktionen von Gehirn und Muskel, bis aufs Produkt. Arbeit dort ist irgendwie ohne inneren Zwang und Streß - aber nur deshalb, weil Effizienz und Rationalität sich bisher nicht durchgesetzt haben, nicht weil ein „höherer Typus gesellschaftlicher Arbeit“ vorliegt. Die Krankheitsbilder sind vermutlich andere. Telefonieren als Daseinsform

Telefonieren ist billig - zwei Kopeken. Ganze Batterien von Telefonapparten sind an allen möglichen Punkten aufgestellt. Im Land der großen Distanzen ist das Telefon unabkömmlich. Aber es ist weit mehr: Es ist wirkliches Kommunikationsmittel, das Medium ununterbrochenen Plauderns, Sichmitteilens, Sichaussprechens, ein Instrument der Selbstunterhaltung. In seinem Bannkreis wird alles andere unwichtig: der Kunde im Geschäft, der Bittsteller in der Behörde, der ratsuchende Reisende im Intourist-Büro, der Theatermensch, der vor dem Kartenschalter ansteht. Der Telefonhörer in der Hand scheint dem privaten Plausch den Anstrich des Offiziellen zu geben und die Geringschätzung der ungeduldig Wartenden zu legitimieren. Dabei wird gekichert, man tauscht sich über das Wetter, die letzte Liebeaffäre, die eben gekauften Schuhe oder sonst was aus coram publico. Aber jeder, der telefoniert, weiß ja, daß jeder es so macht. Vor dem Telefon verschwindet die ungeduldig wartende Umwelt, es ist das Medium eines imaginären Dauerpalavers. Wehwehchen, kollektive

Hypochondrie

Man kann Freunden eine Freude machen, wenn man ihnen ein Medikament mitbringt, daß sie nicht bekommen können. Doch es muß mehr im Spiele sein. Die „vaterländische Medizin“ gilt nichts oder wenig, und man kann fast Mitleid bekommen mit den Ärzten, die nicht nur wenig verdienen, sondern auch mit Patienten zu tun haben, die alles besser wissen als sie. Der Arzt ist keine „Autorität im weißen Kittel“, sondern ein Dienstleistungsmensch, den man nach Bedarf rufen läßt - beim kleinsten Wehwehchen oder - bei Veteranen nicht selten - zur Abwechslung in der Einsamkeit. Die „Erste Hilfe„-Autos sind allzeit unterwegs. Sowjetmenschen sind fast alle Kenner von Tabletten, der Glaube an die gesundmachende Kraft von Tabletten ist ungebrochen, während die bewährten Mittel der Hausmedizin, die es noch gibt und die in den Apotheken noch zu haben sind, aus dem Verkehr gezogen werden.

Woher kommt diese Überempfindlichkeit einer Natur, der doch der Ruf vorausgeht, sie sei besonders robust, diese sonderbare Kultivierung von Anfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit? Ist die Krankheit zum Buhmann für gesellschaftlich nicht mehr identifizierbaren Druck oder diffus gewordene Gegnerschaft geworden? Ist die Flucht in die Krankheit nur die logische Folge gesellschaftlicher Passivität und der hilflose Ausdruck einer Hilfsbedürftigkeit, zu deren Adressat dann der Arzt gemacht wird? Ist der Tablettenglaube eine Begleiterscheinung jenes Mythos von der „wissenschaftlich-technischen Revolution“? Wohnung, die wattierte Tür

Die eigenen vier Wände sind das Wichtigste. Das ist: Ausscheiden aus dem öffentlichen Leben, Eintritt ins Private, Aufbau des Privaten nach Jahrzehnten des zwangsläufigen Gemeinschaftslebens in den Kommunalkas, in denen auch heute noch rund 50 Prozent der Bevölkerung leben. Die Wohnung ist der Rückzugspunkt von den allzeit zu vielen Menschen, dem allzeit bedrohlichen Andrang. Vermutlich spielt sich in den ungeheuren Neubauvierteln der großen Städte die wahre Kulturrevolution ab - die Konstitution der Privatsphäre, die Genese einer Urbanität neuen Typs, auch wenn diese Viertel mit Polis und tradierter europäischer Stadt wenig gemeinsam haben. Freilich wohnen immer noch häufig zwei bis drei Generationen innerhalb einer nicht allzu großen Wohnung, aber doch haben die Neuansiedlungen Großstädte in unseren Augen - eine andere Bedeutung als bei uns. Küche

Die Küche ist der zentrale Kommunikationsort - aus verschiedenen Gründen. In Wohnungen, in denen meist zwei oder drei Generationen zusammenwohnen, ist die Küche der zentrale Raum. Die Küche ist außer der Küche auch der Treffpunkt, der Austauschort, der Versammlungspunkt für Verbindliches, aber auch für beiläufige Treffen. Die Menschenzirkulation der Moskauer Küchen absorbiert all das, was bei uns in Cafes, Kneipen, Wohnzimmern, saalähnlichen Gebilden, Treffs und so fort kanalisiert ist. Nimmt man das alles zusammen, ergibt das eine erstaunliche Intensität. Es sind Relaisstationen des Informationsflusses, eine Art lebender Zeitungen, es sind Orte, an denen sich die Not des dilettierenden Gesprächs über „Gott und die Welt“ verbindet mit der noch nicht ausgestorbenen Tugend, daß auch Nicht -Fachleute eine Meinung zu einer Sache außerhalb ihrer Disziplin haben können. Die Küchen sind die zentralen Orte der Öffentlichkeit, die jetzt erst anfängt, sich jenseits der Küchenwände zu etablieren.

Mode

Die Zirkulationsgeschwindigkeit von Menschen, Gütern, Gedanken, ästhetischen Formen ist langsamer. Aber der Unterschied liegt nicht allein im Tempo. Sondern auch darin, daß ein wesentlicher Impuls für das, was Mode ist, stark gehemmt, wenn nicht gebrochen ist, worauf Benjamin übrigens schon 1927 hingewiesen hatte. Natürlich gibt es Konjunkturen, Bewegungen, Renaissancen - von Philosophen, Themen, Formen. Doch was fehlt, ist dies: der permanente Zwang zur Erneuerung, zur erneuten Form des jeweiligen Zeigefühls, zur permanenten Überbietung des eben Gedachten und Gemachten durch ein anderes, wenn nicht neues. Der autonome Impuls zu erneuerter Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung ist nicht gewalttätig übersteigert, hypertrophiert im konkurrenzhaften Überbieten von Selbstdarstellungen. Mode hat daher häufig etwas von Nachklang, Nachhall von etwas anderem, anderswo Gemachtem. Es gibt auch in der Sowjetunion einen Konformismus der Mode

-vor allem in Schichten, die es sich leisten können und für die solche Selbstdarstellung das Wichtigste ist. Aber ich neige doch dazu, zu glauben, daß der Komformitätsdruck, der auf westlichen Gesellschaften lastet und der sich in permanentem Modewechsel geltend macht, geringer ist. Ich neige zu der Annahme, daß die sowjetische Gesellschaft weniger konformistisch ist als die westliche, weil politischer Konformismus nicht identisch ist mit gesellschaftlichem und weil die Potenzen der Uniformierung in Gesellschaften, die in den Innenbezirk des Menschen vordringen, wesentlich größer sind als in solchen, die auf äußerlich gebliebenen Herrschaftverhältnissen beruhen. Reklame - öffentlich, privat

Reklame ist die Chiffre eines tumben Antikapitalismus. Aber sie kann auch zur Chiffre einer Wirtschaftsform werden, in der die Durchrationalisierung und Durchforschung des

Menschen das logische Beiprodukt eines grenzenlos

gesteigerten Wirtschafts- und Verwertungstriebes ist. Die

Propaganda als politische verhält sich äußerlich, sie kann abgewehrt werden, man kann sich gegen sie abschließen,

frontal oder durch die Formen des „Doppeldenkens“. Eine

Wirtschaftsform, in der alles und jedes und vor allem die

innersten Triebe, die elementarsten Bedürfnisse des Menschen zum Angelpunkt des Erfolges werden, kennt keinen irgendwie geschützten Bereich. Die Rationalität der

Verwertungswirtschaft geht aufs Ganze, macht vor dem

Innersten und Privatesten nicht halt. Der Sowjetmensch wird von der Gesellschaft alleingelassen, der Privatmensch

unserer Gesellschaften wird nicht in Ruhe gelassen. Es gibt eine anmaßende politische Macht, doch die ist weit und

vergleichsweise schwach. Und seitdem die totalitäre

Penetration der Privatsphäre vorbei ist - der Propagandist vor der Haustür bleibt -, ist der Sowjetbürger ein

Privatmensch.

Geld, Preise

Es ist rätselhaft, wie man sich Winterstiefel kaufen kann, die an die 150 Rubel kosten, bei einem Einkommen von, sagen wir, 150 bis 200 Rubeln. Woher kommt das Geld, mit dem man sich einkleidet, sich gewisse längerfristige Konsumgüter erwirbt? Gibt es da Ersparnisse der Älteren, die nun die Jüngeren, die nicht mehr zum Sparen kommen oder noch nie daran gedacht haben, aufzehren? Das bleibt ein Rätsel, selbst dann, wenn klar ist, daß das Geld niemals die entscheidende Rolle spielt. Wichtig ist das Wissen, wo's was wann gibt; wichtig ist die Beziehung dorthin; wichtig ist die Unterscheidung der Qualität, nicht des Preises. Die Geldform scheint eher zufällig, zusätzlich, während das Wesentliche die Naturalform ist. Türen

Eins der charakteristischen Geräusche in Moskau war für mich immer das Knallen der Tür - mit Ausnahme in repräsentativen Gebäuden. Es gibt offensichtlich keinen Mechanismus, das abzustellen. Es ist noch kein Standardtypus gefunden, die die Funktionen einer Tür - Eingang, Ausgang, Ventilation funktionsgerecht gelöst hätte. Es muß irgendwo eine Riesenfabrik für Türen geben, die Standardtüren aus Metall oder Holz fertigt. Das kann viel bedeuten: den Übergang von der individuellen zur standardisierten Massenfertigung, die Abwesenheit eines entsprechenden Handwerks, die Abwesenheit eines konkret benennbaren Hausbesitzers, der eine Tür in Ordnung bringt, die Gewöhnung an einen spezifischen Lärm, der nicht mehr wahrgenommen wird.

Auch auf vielem anderen liegt der Stempel der Improvisation und der Gleichgültigkeit. Wenn man sich die europäische Geschichte ohne Handwerk denkt - was bleibt von ihr übrig? Wenn man sich eine Gesellschaft ohne das Training spezifischer Fertigkeiten denkt, was bleibt von der Funktionsfähigkeit? Und warum sollte man es besser machen, wo doch auch schludrige Arbeit in der Regel ohne Risiko und Sanktion bleibt? Seife, Deodorant

Der sowjetische Alltag ist von Gerüchen durchzogen, unsere Welt ist geruchlos geworden, desodoriert. Das betrifft alle Sphären. In unseren Supermärkten riecht es nach einer diffusen Melange, einem Nichts. Dort riecht es nach Fleisch, Fisch, Milch, Gemüse. Daß es oft unangenehm riecht, zeigt an, daß etwas verdorben ist, noch verderben kann, während bei uns alles unverderblich geworden ist durch Konservierungsmittel, die den Dingen verbieten, auf natürliche Weise zu sterben und in Verwesung überzugehen. Wir essen Tomaten und Gurken, die nach nichts mehr schmecken, obwohl sie prall und glänzend aussehen. Dort sehen wir nur unansehnliche Tomaten und Erdbeeren - aber sie schmecken wie Tomaten und Erdbeeren.

Das gilt auch für die Menschen, die sich eine zweite Haut gegeben haben. Es gibt auch dort penetrante Parfums Maiglöckchen, Veilchenduft -, aber in der Regel ist es anders: Die Putz- und Reinigungsmittel kommen eher vom Scheuersand her als von BASF. Die Reinigung erfolgt eher mechanisch denn chemisch. Sie ist anstrengender, aber nicht aggressiv. In der Sowjetunion gibt es vielleicht viele Gerüche, die wir vergessen haben, aber es geht hautschonender zu. Vielleicht nehmen wir es erst jetzt wahr, da auch die okzidentale Deokultur ihre Grenzen zeigt. Laut, leise

In der sowjetischen Gesellschaft geht es leise zu, bei uns laut. Der Lärm ist der Preis für die Möglichkeit individueller Selbstdarstellung und führt einen von der Konkurrenz angestachelten Exhibitionismus. Es gibt laute Szenen: Feuerwerke, Panzerparaden, Lautsprecherübertragungen. Doch das sind Einlassungen in die Stille des Alltags. Der Alltag ist erschöpfend, es wird wenig gesprochen. Das Gescharre und Getrappel von Menschenmassen in der Metro oder im Kaufhaus ist ein leiser Ton. Es gibt kein Marktgeschrei, keine Selbstanpreisung, kein „Wer bietet mehr“ und „Ich bin der Beste“. Der Lautpegel hat natürlich wieder etwas mit dem Wohlstand zu tun: Ein Radio oder Cassettenrecorder kommt nicht an gegen die Schwingungszahl der Yamaha-Boxen. Klos als nationaler Notstand

Die Fomulierung stammt aus einem Aufsatz der 'Literaturnaja gazeta‘, nicht von mir. Aber es hat mich seit jeher beschäftigt, warum in solcher Ausschließlichkeit die Klos die unansehnlichsten Orte der Sowjetunion sind. Das betrifft nicht nur öffentliche an abgelegenen Orten, auch an prominenter Stelle mit internationalem Publikum: in der Leninbibliothek etwa, am wenigsten an Orten der Kultur, in Theatern und Opernhäusern. Ich habe darüber Gespräche geführt. Es muß hier vermutlich viel zusammenkommen: die Technik, Problem der Ernährung, allgemeine Gleichgültigkeit, verstärkt um die allgemeine Diskreditierung „dienender“ Berufe oder Tätigkeiten - angefangen vom Kellner bis hin eben zur Toilette. Die Revolution war auch eine Rebellion gegen die Kultur der Diener und des Dienens und Bedienens der Service der gegenwärtigen Sowjetgesellschaft hat etwas zu tun mit dem Untergang der Servilitäten, in dem auch das „Bedienen“ zugrundeging. Die Macht der Frauen

Die sowjetische Gesellschaft ist eine von Frauen zusammengehaltene. Frauen sind in dem Land, das in den Weltkriegen, im Bürgerkrieg und in der Zeit des Massenterrors die Männer verloren hat, nicht nur in der Mehrzahl, sondern sie haben auch eine dominierende Stellung, wenn man Dominanz wiederum nicht identifiziert mit politischer Dominanz. Sie stellen, von einigen Branchen abgesehen - Schwerindustrie, Bau und so fort -, die Mehrzahl der Arbeiterbevölkerung, manche Zweige sind fast ausschließlich in Händen von Frauen: Gesundheitswesen, Erziehung, Kultur, Warendistribution. Die Frauen halten die Familien mehr zusammen als die Männer. Sie, vor allem die Großmütter, sind die Säulen der Kindererziehung. Auf den Mann kann die sowjetische Familie verzichten, auf die Frau nicht. Man kann das als Emanzipation der Frau bezeichnen, man kann darin aber auch die Folge der Depotenzierung der Rolle des Mannes sehen. Der unterforderte Mann

Die Lebenserwartung des sowjetischen Mannes ist auf beängstigende Weise gesunken, sie ist im Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern erschreckend niedrig. Der Mann ist das Hauptobjekt der Besserungskampagne „Los vom Alkohol“. Ich kann mir darauf keinen Reim machen, höchstens eine theoretische Überlegung anfügen: Welche Rolle spielt die Auflösung der bürgerlichen Familie für die Untergrabung der führenden Rolle des Mannes als Ernährer, Erhalter, Vererber? Wenn etwas ansteht, dann wohl die „Emanzipation des Mannes“. Babuschka

Jene alten Frauen, die auf den Bänkchen vor den Wohntürmen sitzen, schwatzen und die Kinder spazieren führen, sind eine geheime Macht, einflußreicher wahrscheinlich als die amerikanischen Frauenorganisationen, aber nicht durch ihre Organisation, die es nicht gibt, sondern durch ihre Anwesenheit, durch das, was sie sind. Ohne sie gibt es keine Kindererziehung, auf sie fällt die Hauptlast, wenn alle anderen werktätig sind. Ihr Einfluß wurzelt in der Primärschicht der Lebenswelt, in der Ordnung der Kinderjahre.

Sie sind die Anwesenheit des Dorfes in der Stadt - auch die überwältigende Mehrheit der Moskauer hat noch Beziehungen zum Land, die Mehrzahl ist Moskauer erst in der zweiten oder ersten Generation. Die Menschenagglomeration Moskau ist die Agglomeration von Menschen aus dem Dorf, die Hochhausbauten am Stadtrand sind hundertfach übereinander geschichtete Dorfwelten, und die Hauptfigur dieses Einflusses und dieser Präsenz ist eben die Babuschka. Das ist nicht romantisch gemeint. Sie ist ein Notbehelf, wo es nicht genügend Kindergärten gibt und wo die Infrastruktur vorab mit den unproduktiven, aber unverzichtbaren Alten rechnen muß. Die Babuschka in der Stadt ist eine Figur der ersten Verstädterungswelle, und sie wird vermutlich verschwinden in dem Maße, wie die Urbanisierung voranschreitet. Verrückte Typen

Das Land ist weit, es setzt sich aus verschiedenen Zeit- und Kulturstufen zusammen. Es ist wenig uniformiert und homogenisiert, es gibt viele Bruchstellen und Leerstellen. Es gibt tausenderlei Ausweichmöglichkeiten. Obwohl jeder einen sicheren Arbeitsplatz hat, gibt es doch viele, die ungewöhnliche Arbeiten verrichten, die seltsame Karrieren und Berufsläufe hinter sich gebracht haben. Das gesellschaftliche Netz ist weitmaschig und anarchisch. Es gibt Studenten, die in Sibirien gearbeitet haben, Ingenieure, die monatelang in der Einsamkeit waren, Heiraten, die nach Tiflis und zurückgeführt haben, eine Kapitänin, die ihren Kahn von Baku nach Tallinn steuert, einen Fabrikarbeiter, der sich etwas hinzuverdient, in die Wälder von Vologda fährt und Beeren sammelt, um sie dann auf dem Markt zu verkaufen. Diese Leute können Ungewöhnliches erzählen, sie haben viel gesehen und erlebt, auch ein bißchen mit dem Leben gespielt. Ich kenne in Deutschland keine solche verrückten Typen - nicht einmal die Tramps nach Katmandu können da mithalten. Miliz

Ich nehme an, daß es eine Kluft zwischen Ordnungshütern einerseits und der Bevölkerung andererseits nur an sehr wenigen Punkten gibt: zwischen Miliz und Trinkern, zwischen Miliz und Intelligenz-Leuten, zwischen Miliz und Jugendlichen. Werden sie überhaupt als staatliche Gewalt wahrgenommen? Ich hatte immer den Eindruck, daß sie eher als welche „von uns“ angesehen werden - im Kleinen auf der Straße, wenn man Auskunft will, die sie meist nicht geben können, im Großen bei Massenumzügen mit Aufgeboten, die einen erschrecken lassen (an Stadien, bei Umzügen, wo ein ganzes Stadtzentrum abgerissen werden kann). Konfrontation von Masse mit den Rittern des 20.Jahrhunderts - solche Szenen sind Bilder aus dem Fernsehen des Auslands. Öffentlichkeit/Privatheit: die

Abwesenheit von Pornographie

Solange es keine Öffentlichkeit gibt, mag es einen diktatorischen Staat geben, aber keine Diktatur der öffentlichen Meinung. Politischer Druck ist etwas anderes als gesellschaftlicher Druck. Politischer Konformismus ist nicht identisch mit dem Konformismus, der durch die Gesellschaft erzeugt wird. Ich will nicht fragen, was das mächtigere, penetrierende, mehr an die Substanz gehende ist.

Die Geometrisierung und Durchforschung der Gefühls- und Triebwelt, des Innersten der Menschen, und deren Inbesitznahme durch andere stellt für mich ein Grundmuster einer auf den Menschen zielenden, ihn durch und durch erfassenden Zivilisation dar.

Die Abwesenheit von Pornographie in der Sowjetunion führe ich allein auf das Verbot zurück oder auf eine eher prüde eingestellte öffentliche Moral. Es ist für mich ein Indiz dafür, daß es kein gesellschaftliches Interesse von Relevanz gibt, in diesen Innenbezirk einzubrechen und ihn sich dienstbar zu machen. Es gibt einen Schutz der Persönlichkeit nicht durch Verbote, sondern durch die Abwesenheit eines Zugriffs auf das Innerste der Menschen. Es gibt einen Zugriff, der im Ernstfall zur schrecklichen Komödie der Bekenntnisse und Selbstbezichtigungen in den Schauprozessen geführt hat, es gibt einen Zugriff auf das Denken, dessen Formen von Milosz genau und differenziert beschrieben worden sind. Aber eine Macht, die Geständnisse erzwingen kann, ist

-auf lange Sicht - vielleicht nicht so ausgreifend und total wie jene, die den Menschen als Ganzes durchforscht hat und ihn sich untertan machen möchte.

An diesem Punkt bricht die Reise ab. Sie hat im nachhinein gesehen doch eine gewisse Richtung gehabt: von der äußeren Grenze von Land zu Land zur inneren Grenze, wo Öffentliches und Privates sich berühren. Weiter soll es nicht gehen.

Wenn man sich in das Massiv des Alltags hinabläßt, dann blickt man fasziniert auf das, was unter dem Namen „Perestroika“ gegenwärtig in der Sowjetunion vor sich geht, und weiß doch zugleich, daß das Massiv eines Alltags sich nicht durch einen „Umbau“ verändert, sondern durch ein Wachsen oder die Freisetzung von etwas, was bereits herangewachsen ist - nirgendwo anders natürlich als in diesem „Alltag“ selbst. Dieses Wachsen von Kräften im Alltag zu analysieren ist eine der schwierigsten Aufgaben, die man sich vornehmen kann.

Wir danken der 'Kommune‘, die uns diesen Auszug aus einem Artikel gestattete, den sie in ihren Ausgaben 2 und 3/1988 veröffentlichte.

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