: Arbeitsamt muß „Hilfe“ voll zahlen
Bundessozialgericht: Arbeitslosenhilfe muß unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden ■ Aus Berlin Karl Nolte
Auch Kinder reicher Eltern haben Anspruch auf volle Arbeitslosenhilfe (Alhi). Eine Unterhaltspflicht der Eltern besteht grundsätzlich nicht. Das hat gestern der 11.Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einem abschließenden Urteilsspruch entschieden. Von dem Urteil betroffen sind Bezieher von Alhi mit abgeschlossener Berufsausbildung, deren Stütze unter Hinweis auf eine angebliche Unterhaltspflicht der Eltern vom Arbeitsamt gar nicht oder nur teilweise ausgezahlt wird. Dies erklärte das BSG unter Hinweis auf das bürgerliche Gesetzbuch für rechtswidrig.
Nach Paragraph 1602 BGB besteht nur dann eine Unterhaltspflicht für Verwandte, wenn der volljährige Alhi -Empfänger außerstande ist, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Nach bürgerlichem Recht ist einem Volljährigen auch zuzumuten, zur Bestreitung seines Lebens jedwede Arbeit auch fernab des eigenen Wohnorts auszuüben. Dazu kann das Arbeitsamt aber niemanden zwingen: Unter Berufung auf die Zumutbarkeitsanordnung der Bundesanstalt für Arbeit hat der Arbeitslose das Recht, die Aufnahme bestimmter Tätigkeiten zu verweigern.
Im gestern verhandelten Fall war einer Erzieherin, die sich unter Hinweis auf die Zumutbarkeitsanordnung geweigert hatte, als Putzfrau zu arbeiten, nicht die volle Stütze ausgezahlt worden. Begründung des Arbeitsamtes: Die Erzieherin sei nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, ihre Eltern deshalb unterhaltspflichtig. Gegen diese Rechtsauffassung hat sich die Frau jetzt auch vor dem BSG als höchster Fortsetzung Seite 2
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Instanz durchgesetzt. Der Prozeßbevollmächtigte der Bundesanstalt hatte die Kürzung der Alhi mit dem Argument begründet, die Erzieherin habe „die erhebliche Diskrepanz zwischen Arbeitslosenleistungs- und Unterhaltsrecht ungeniert ausgenutzt“, um an den vollen Alhi-Satz zu kommen.
Dieser Rechtsauffassung mochten die obersten Richter nicht folgen. Sie schlossen sich der Meinung von Rechtsanwalt Klaus Dieter Freund aus Mannheim an, der die Erzieherin vertrat. Die Zumutbarkeitsanordnung sei letztlich auch zum Schutz der Arbeitsplätze ungelernter Kräfte geschaffen worden, erklärte Freund, eine Aushöhlung der Zumutbarkeitsklausel schade der Mehrheit der Versicherten. Vier ähnlich gelagerte Streitfälle wurden vom BSG in der gestrigen Verhandlung gleichlautend entschieden. Mit dem Richterspruch ist die Praxis der Arbeitsämter, eine „fiktive Unterhaltspflicht“ der Eltern vorauszusetzen und die Stütze entsprechend zu kürzen, endgültig als rechtswidrig erkannt worden. Entsprechende Alhi-Bescheide, gegen die kein Widerspruch eingelegt wurde, bleiben jedoch bis zum Ende ihrer Geltungsdauer wirksam. Der Arbeitslosenhilfe-Etat des Amtes wurde bis heute jährlich mit etwa 100 Millionen Mark durch die Unterhaltszahlungen argloser Eltern aufgefrischt.
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