: Stammheim: Verteidigeranträge abgelehnt
Anklage gegen Sievering und Prauss wegen Sprengstoffanschlag auf Dornier / Prozessakten durch Bundesanwaltschaft beschlagnahmt / Befangenheitsantrag und Einstellungsantrag abgelehnt ■ Aus Stammheim Dietrich Willier
„Frau Sievering, ich rede mit Ihnen.“ „Ich warne!“ „Herr Prauss, würden sie bitte. . . “ „Ich drohe, Sie für den Rest des Verfahrens zu trennen.“ Dann verhängt der Vorsitzende des 5.Strafsenats am Oberlandesgericht Stuttgart je drei Tage Ordnungshaft wegen Weigerung der Angeklagten, auf Fragen zu reagieren - der Stammheimer Alltag hat wieder begonnen.
Angeklagt sind die 29-jährige Andrea Sievering und der 27 -jährige Erik Prauss, beide aus Köln. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Diebstahl und die Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion in einem besonders schweren Fall, wirft die Bundesanwaltschaft den beiden vor. Ein Schaden von 1,3 Millionen soll bei dem Anschlag auf das Immenstaader Zweigwerk des Flugzeugherstellers Dornier entstanden sein. Als „Täuschung im Rechtsverkehr“ bezeichnet die BAW die Verwendung fremder Jugendherbergsausweise. Die beiden Angeklagten sitzen seit Dezember 1987 in Untersuchungshaft.
Doch zur Verlesung der Anklageschrift sollte es erst am Nachmittag kommen. Mit einem Antrag forderte Rechtsanwalt Viergutz vor vollbesetzten Zuschauerrängen gleich zu Beginn des Prozesses die sofortige Einstellung des Verfahrens. Am vergangenen Sonntag, so Viergutz, seien Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft in die Zellen der beiden Angeklagten eingedrungen, hätten diese durchsucht und den größten Teil der Prozessunterlagen mitgehenlassen und beschlagnahmt. Ein Teil der Verteidigerpost sei dann zwei Tage später als Kopie des Bundeskriminalamtes wieder zurückgekommen, ein anderer Teil der Akten fehle immer noch, außerdem Bücher, Zeitschriften und Broschüren. Für die Sonntagsaktion, so mußten die Bundesanwälte heute auf Nachfrage zugeben, existiert bis heute keine richterliche Anordnung, sondern nur eine „Sondergenehmigung des Generalbundesanwalts“. Einen eklatanten Eingriff in die Rechte der Verteidigung nennen das die Rechtsanwälte. Die Interessen der Verteidigung seien in diesem Fall nicht schutzwürdig, widersprach der Bundesanwalt.
Der Einstellungsantrag, sowie ein Befangenheitsantrag und einer auf Herausgabe der gesamten Prozessakten, wurden am Nachmittag des gestrigen Prozesstages vom 5.Strafsenats des OLG-Stuttgart fast erwartungsgemäß abgelehnt und zurückgewiesen. Die Beschlagnahme-Aktion der Bundesanwaltschaft, so Vorsitzender Herbert Schmid, sei kein Verstoß gegen den Grundsatz eines fairen Verfahrens. Außerdem hätten sich weder die Verfolgungsbehörden noch das Gericht durch die Beschlagnahme der Prozessakten eine erhebliche Einsicht in die beabsichtigte Prozesstrategie verschaffen können. Das Gericht betrachte sich als unbefangen.
In einer anschließenden Prozesserklärung betonte der Angeklagte Erik Prauss, er und Andrea Sievering seien nicht Mitglieder der RAF, oder gar Kuriere der RAF. BAW und BKA, so Prauss, handelten in einer Art Ausnahmezustand gegenüber den verschiedensten radikalen Gruppen, um über die eigene Erfolglosigkeit gegenüber der RAF hinwegzutäuschen. Wer und was verfolgt würde, wer und wie gefoltert würde, welcher Kronzeuge wann eingesetzt würde, bestimme mittlerweile ausschließlich die Bundesanwaltschaft.
Erik Prauss fordert für die Revolutionierung der Verhältnisse die eigene emotionale Mobilisierung. Ohne Schema und gemeinsame Linie, vieles sei da noch unentdeckt. Man wolle jetzt ins Leben springen, kämpfen und verantwortlich Handeln, das befreie die Sinne und mache Mut. Die Verhandlung wird am kommenden Dienstagvormittag fortgesetzt. Die Bundesanwaltschaft hat 79 Zeugen und acht Sachverständige benannt. Der Senat hat vorläufig 20 Verhandlungstage bis Mitte Dezember terminiert.
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