: Der Zustand, den wir Exil nennen
■ „Aber unser größerer Wert und unsere größere Aufgabe liegen vielleicht in unserer unbeabsichtigten Verkörperung der entmutigenden Idee, daß ein befreiter Mensch kein freier Mensch ist, daß Befreiung bloß bedeutet, in Freiheit zu gelangen und nicht mit ihr gleichzusetzen ist.“
Joseph Brodsky
Ein Exilautor führt im großen und ganzen eine rückwärts gewandte und auf Rückwirkung bedachte Existenz. Mit anderen Worten: die Retrospektive spielt bei ihm, im Vergleich zu anderen Leuten, eine übertriebene Rolle, sie überschattet seine Realität und verdüstert die Zukunft in etwas, was undurchdringlicher ist als die gewöhnliche Erbsensuppe. Ihm geht es wie den falschen Propheten in Dantes Inferno: Sein Kopf ist für immer rückwärts gewandt, und seine Tränen und sein Speichel laufen ihm zwischen den Schultern den Rücken hinunter. Ob er von Natur aus schwermütig veranlagt ist oder nicht, spielt keine Rolle: Verurteilt zu einem begrenzten Publikum in der Fremde, hilft es ihm nicht, sich nach den wirklichen oder eingebildeten Mengen zu sehnen, die er zurückgelassen hat. Wie ihn das erstere mit Bosheit erfüllt, nähren die anderen seine Phantasie. Auch wenn er die Freiheit zu reisen errungen hat, und selbst wenn er schon einige Reisen hinter sich gebracht hat, bleibt sein Schreiben dem vertrauten Material seiner Vergangenheit verhaftet, produziert er sozusagen Fortsetzungen seiner bisherigen Werke. Aus dieser Verbundenheit heraus wird ein Exilautor höchstwahrscheinlich Ovids Rom, Dantes Florenz und - nach einer kleinen Pause - Joyce's Dublin heraufbeschwören. Es ist aber eher unklug als unbescheiden, für uns selbst die Art von Zukunft zu erwarten, die wir mit diesen Namen verbinden. Es ist zwar selbstverständlich, daß ein Autor sich immer aus der Perspektive seiner Nachwelt betrachtet, und umso mehr tut das ein Exilautor, und zwar weniger aufgrund des künstlichen Vergessens, dem er durch sein Heimatland unterworfen wird, als vielmehr aufgrund der Art, in der die Kritikerzunft seine Zeitgenossen auf dem freien Markt hochlobt. Heute aber sollte man mit dieser Art der Selbstentfremdung vorsichtig umgehen, und zwar aus keinem anderen Grund als aus der Gewißheit, daß Literatur durch die Bevölkerungsexplosion selbst die Dimension eines demographischen Phänomens angenommen hat.
Es gibt heute einfach zu viele Autoren. Noch vor wenigen Jahrzehnten kam ein Erwachsener bei dem Gedanken an Bücher oder Autoren, die man gelesen haben mußte, auf 30, 40 Namen; heutzutage geht die Zahl dieser Namen in die Tausende. Heute kommt man in einen Buchladen wie in ein Plattengeschäft, das mit Aufnahmen vollgestopft ist, um die zu hören man mehr als ein ganzes Leben bräuchte. Und nur sehr wenige unter diesen Tausenden sind Exilautoren oder etwa besonders gut. Aber die Öffentlichkeit wird sie lesen, und nicht dich, trotz deines Heiligenscheins, und zwar nicht etwa, weil sie pervers oder fehlgeleitet wäre, sondern weil sie, statistisch gesehen, sich auf das Normale, auf den Schrott beschränkt. Mit anderen Worten: sie will von sich selbst lesen. Auf irgendeiner Straße, in irgendeiner Stadt auf der Welt gibt es zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit mehr Leute, die nie etwas von dir gehört haben als etwa jene, die schon mal von dir gehört haben.
Weil er aber von der Zukunft gar nicht anders denken kann als in der strahlenden Gestalt einer triumphierenden Rückkehr, hält ein Exilautor die Stellung. Und warum auch nicht? Warum sollte er versuchen, etwas anderes zu machen, warum sollte er sich darum bemühen, die Zukunft in irgendeiner anderen Form zu erforschen, wo sie ohnehin unvorhersagbar bleibt? Der gute alte Stoff leistete ihm wenigstens einmal gute Dienste: Er trug ihm das Exil ein. Schließlich ist Exil eine Art von Erfolg. Warum den guten alten Stoff nicht etwas weiter bearbeiten? Es gibt immer die Chance zu einem Meisterwerk, wenn du die gleiche Strecke zweimal zurücklegst, eine Möglichkeit, die dem Auge deines Verlegers nicht entgeht, oder die zumindest künftigen Forschern zu der Beobachtung eines „mythenbildenden“ Elements in deinem Werk verhilft. Wie praktisch auch immer das klingen mag, das sind zweit- oder drittrangige Gründe, die einen Exilautoren dazu veranlassen, seine Augen beständig auf seine Vergangenheit zu richten. Die wesentliche Erklärung findet sich in der bereits erwähnten rückwärts gewandten Maschinerie, die durch das geringste Anzeichen für die die umgebende Fremdheit in dir unwissentlich in Gang gesetzt wird. Manchmal reicht die Gestalt eines Ahornblatts, und jeder Baum hat davon Tausende. Auf einer animalischen Ebene ist diese Maschinerie in einem Exilautoren, immer unbekannt für ihn, ständig in Bewegung. Ob sie ihm nun angenehm oder trostlos erscheint, die Vergangenheit ist immer ein geschütztes Territorium, allein schon deshalb, weil sie bereits erfahren wurde; und die Fähigkeit der Gattung zurückzukehren, rückwärts zu gehen - besonders in ihren Gedanken oder Träumen, zumal wir dort ebenso sicher sind - diese Fähigkeit ist in uns allen außerordentlich stark, und zwar ziemlich ungeachtet der Realität, der wir uns gegenüber sehen. Dennoch hat sich diese Maschinerie in uns nicht entwickelt, um die Vergangenheit in Ehren zu halten oder unter Kontrolle zu bringen (schließlich gelingt uns beides nicht), sondern vielmehr, um die Ankunft der Gegenwart zu verzögern, mit anderen Worten: um den Strom der Zeit ein wenig zu verlangsamen. Man denke an den fatalen Ausruf von Goethes Faust.
Es ist einfach so, daß unser Exilautor, wie Goethes Faust, sich an seinen schönen oder nicht so schönen Augenblick klammert, nicht um ihn zu betrachten, sondern um den nächsten hinauszuschieben. Es ist nicht so, daß er wieder jung sein möchte; er mag einfach nicht, daß das Morgen kommt, weil er weiß, daß es entstellen könnte, was er betrachtet. Und je mehr das Morgen ihn bedrängt, desto störrischer wird er. Es liegt ein ungeheurer Wert in dieser Widerspenstigkeit: Im Glücksfall mag sie sich auf die Intensität der Konzentration ausdehnen, und dann dürfen wir tatsächlich ein großes literarisches Werk erwarten. Häufiger jedoch verwandelt sich diese Widerspenstigkeit in die ständige Wiederholung der Nostalgie, was, um es grob zu sagen, bloß auf ein Versagen hinausläuft, mit den Realitäten der Gegenwart oder den Unsicherheiten der Zukunft umzugehen.
Natürlich kann man da nachhelfen, etwa indem man den Erzählstil ändert, ihn etwas auf Avantgarde trimmt, indem man den Stoff mit einem guten Schuß Erotik, Gewalt, zotiger Sprache usw. würzt, ganz nach der Mode der Kollegen auf dem freien Markt. Aber: stilistische Verschiebungen und Neuerungen sind zu einem großen Teil von dem Zustand der Literatursprache in der alten Heimat, und das heißt: von Verbindungen abhängig, die unterbrochen worden sind. Und was das Gewürz betrifft, möchte kein Autor, ob im Exil oder nicht, sich von seinen Zeitgenossen beeinflußt zeigen. Man kann vielleicht hinzufügen, daß das Exil die stilistische Entwicklung eines Autors verlangsamt, daß es ihn konservativer macht. Nicht so sehr der Mensch ist der Stil als vielmehr seine Nerven, und das Exil insgesamt verschafft einem weniger Reize als das Heimatland.
Man endet im Exil aus einer Reihe von Gründen und unter einer ganzen Anzahl verschiedener Umstände. Einige klingen besser, andere schlechter, der Unterschied zählt nicht mehr, wenn man eine Todesanzeige liest. Du bist es nicht, der seinen Platz auf dem Bücherbrett einnimmt, sondern dein Buch. Und solange die Leute darauf beharren, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, ist es besser, wenn sie dein Buch gut und dein Leben trübe finden, als umgekehrt. Wahrscheinlich ist, wie es sich gehört, ihnen beides egal.
Das Leben im Exil, im Ausland, in einer fremden Umgebung gibt dir im Grunde eine Vorahnung von deinem Schicksal in Gestalt eines Buches, verloren auf dem Brett unter jenen, mit denen du nur den ersten Buchstaben deines Nachnamens gemeinsam hast. Da bist du nun, im Lesesaal irgendeiner riesigen Bibliothek, die noch geöffnet ist...Dein Leser wird nicht einmal einen Fluch darauf verschwenden, wie du hierhergekommen bist: Unter einer gewissen Perspektive verschmilzt alles, was er liest. Um dich selbst davor zu bewahren, abgeschlossen und eingeordnet zu werden, mußt du deinem Leser, der denkt, daß er das alles kennnt, etwas qualitativ Neuartiges erzählen - und zwar über seine Welt und ihn selbst. Wenn das jetzt etwas zu suggestiv klingt, mag es so sein, weil Suggestion irgendwie der Name für das ganze Spiel ist, und weil die Distanz, die das Exil zwischen einem Autor und seinen Charakteren herstellt, tatsächlich manchmal den Gebrauch von astronomischen oder religiösen Symbolen erfordert.
Genau das aber läßt einen denken, „Exil“ sei vielleicht nicht der passendste Begriff dafür, die Lage eines Autors zu beschreiben, der (durch den Staat, aus Furcht, aufgrund von Armut oder Langeweile) sich gezwungen sah, sein Land zu verlassen. „Exil“ benennt, bestenfalls, den unmittelbaren Augenblick des Abschieds, der Vertreibung; was dem folgt, ist ebenso zu gemütlich wie zu unabhängig davon, um mit diesem Wort bezeichnet zu werden, daß einen so verständlichen Gram nahelegt. Die Tatsache, daß wir uns hier zusammengefunden haben, deutet darauf hin, daß uns, wenn wir tatsächlich einen gemeinsamen Nenner haben, der Name für ihn fehlt. Leiden wir denn wirklich an der gleichen Verzweiflung? Sind wir gleichermaßen von unserer Öffentlichkeit abgeschnitten? Leben wir alle in Paris? Nein, was uns miteinander verbindet, ist das gleiche buchstäbliche und symbolische Offenliegen auf dem Tisch oder dem Boden jener riesigen Bibliothek, in ihren verschiedenen Winkeln, daß man auf uns herumtrampelt, oder ein etwas neugieriger Leser - oder schlimmer: ein pflichtbewußter Bibliothekar uns aufliest. Der qualittativ neuartige Stoff, von dem wir jenem Leser etwas erzählen können, ist diese unabhängige raumschiffartige Mentalität, die, ich bin mir dessen sicher, jeden von uns heimsucht, aber deren Heimsuchungen die meisten unserer Buchseiten nicht eingestehen wollen.
Wir tun das aus praktischen oder aus Genre-Überlegungen. Weil auf diesem Weg entweder der Wahnsinn lauert oder aber jener Grad von Kälte, den wir eher mit den bleichgesichtigen Einheimischen als mit einem heißblütigen Exilanten verbinden. Der andere Weg aber führt, nahebei, zur Banalität.
Das alles mag für Sie wie ein typisch russischer Job, Richtlinien für die Literatur zu entwickeln, klingen, während das tatsächlich bloß die Reaktion eines Mannes auf die Beobachtung ist, viele Exilautoren, und besonders Russen, auf der banalen Seite der Tugend wiederzufinden. Das ist eine große Verschwendung; denn eine weitere Wahrheit über den Zustand, den wir Exil nennen, führt zu der Erkenntnis, daß das Exil die berufliche Flucht oder das Abdriften in die Isolation ungeheuer beschleunigt, das heißt, man gelangt in eine absolute Perspektive: in die Lage, in der alles, was einem geblieben ist, man selber und seine eigene Sprache ist, mit niemandem oder nichts dazwischen.
Das Exil bringt dich über Nacht dahin, wohin zu gelangen du normalerweise ein ganzes Leben brauchst. Wenn das wie ein Werbeslogan klingt, mag es so sein, weil es an der Zeit ist, diese Idee zu verkaufen. Weil ich in der Tat wünsche, sie fände mehr Abnehmer. Vielleicht hilft eine Metapher weiter: Einen Exilautoren möchte ich mit einem Hund oder einem Menschen vergleichen, den man in einem Raumschiff in den Weltraum gejagt hat (eher natürlich mit einem Hund als mit einem Menschen, weil man sich nicht damit plagen wird, dich zurückzuholen). Und dein Raumschiff ist deine Sprache. Um die Metapher abzuschließen, muß hinzugefügt werden, daß der Passagier bald entdeckt, daß sein Raumschiff sich nicht erdwärts bewegt, sondern in freiem Fall im Weltraum verschwindet.
Für uns ist der Zustand, den wir Exil nennen, zuerst ein linguistisches Ereignis: Ein Exilautor ist zurückgeworfen auf seine Muttersprache bzw. er weicht auf sie zurück. War sie bisher sein Schwert, verwandelt sie sich nun in seinen Schild, in sein Raumschiff. Was als eine private intimeBeziehung zur Sprache begann, wird im Exil Schicksal, sogar noch bevor es zu einer Besessenheit oder gar einer Pflicht wird. Eine lebende Sprache hat definitionsgemäß eine zentrifugale Neigung und Antriebskraft; sie versucht so viel Grund wie möglich zu bedecken - und ebensoviel Leere wie möglich zu umschreiben. Daher die Bevölkerungsexplosion un daher deine autonome Passage nach außen, in den Bereich eines Teleskops oder eines Gebets.
Wir alle arbeiten gewissermaßen für ein Lexikon. Denn Literatur ist das Lexikon der Sprache, in der das Leben zu den Menschen spricht. Ihre Aufgabe ist es, den kommenden Menschen davor zu bewahren, in eine alte Falle zu tappen, oder ihm zu helfen, sich klarzumachen, daß er, wenn er sowieso in die Falle geht, Opfer einer Tautologie geworden ist. Derart wird er weniger beeindruckt sein - und das heißt: freier.
Es scheint mir, daß der Zustand, dern wir Exil nennen, reif ist für eine weitere Erklärung; daß er, berühmt für seinen Schmerz, ebenso bekannt sein sollte für seine schmerzlindernde Unendlichkeit, für seine Vergessenheit, seine Gleichgültigkeit, für seine erschreckend menschlichen und unmenschlichen Perspektiven, für die wir keinen Maßstab als uns selbst besitzen.
Für den kommenden Menschen müssen wir es leichter machen, wenn wir es schon nicht sicherer machen können. Und der einzige Weg, es leichter für ihn zu machen, ihm weniger Schrecken zu bereiten, ist es, ihm das ganze Ausmaß zu vermitteln, daß heißt, so viel, wie wir selbst umfassen können. Wir können uns endlos über unsere Verantwortung und Loyaltiäten streiten, aber diese Verantwortung: oder eher: Gelegenheit, den kommenden Menschen, so theoretisch er und seine Bedürfnisse für uns auch sind, etwas mehr freizusetzen, sollte uns nicht zögern lassen.
Ich meine, wir könnten auch aufhören, in der großen kausalen Kette der Dinge bloß als ihre Glieder zu klirren, und stattdessen versuchen, mit Ursachen selbst zu spielen. Der Zustand, den wir Exil nennen, gibt genau diese Gelegenheit.
Wenn wir dennoch keinen Gebrauch davon machen, wenn wir uns entscheiden, bloß Effekte zu bleiben und weiter altmodisch Exil zu spielen, sollte das nicht wegerklärt werden als Nostalgie für den Stiefel. Natürlich hat das mit der Notwendigkeit zu tun, von Unterdrückung zu sprechen, und natürlich sollte unsere Lage jedem denkenden Mnschen als Warnung davor dienen, mit der Idee einer idealen Gesellschaft zu spielen. Das ist unser Wert für die freie Welt. Das ist unsere Aufgabe.
Aber unser größerer Wert und unsere größere Aufgabe liegen vielleicht in unserer unbeabsichtigten Verkörperung der entmutigenden Idee, daß ein befreiter Mensch kein freier Mensch ist, daß Befreiung bloß bedeutet, in Freiheit zu gelangen und nicht mit ihr gleichzusetzen ist. Das beleuchtet das Ausmaß des Schadens, der der menschlichen Gattung zugefügt werden kann, und wir können uns stolz fühlen, diese Rolle spielen zu dürfen. Wenn wir aber eine größere Rolle spielen wollen, die Rolle eines freien Menschen, dann sollten wir bereit sein, diese Art, in der ein freier Mensch scheitert, zu akzeptieren - oder zumindest nachzuahmen. Wenn ein freier Mensch scheitert, macht er niemand anderen dafür verantwortlich.
Übersetzt von Hans Hütt
(Dieser Essay wurde von Joseph Brodsky dem Berliner Kongreß EIN TRAUM VON EUROPA zur Verfügung gestellt. In voller Länge erscheint er im Herbst im Literaturmagazin Nr.22 des Rowohlt -Verlags.)
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