: Desaster als Hobby
■ Vom Ende der bürgerlichen Gemütlichkeit
Gabriele Goettle
„Die Ware ist rebellisch geworden und jauchzt, springt, platzt vor Vergnügen, weil der Händler ihr die Haut des Konsumenten als Hülle gab. Nein, an keiner Straße des Fortschritts geht es so hoch her wie an der unsern.„ Karl Kraus (Weltgericht
Das Programm des Werbefernsehens ist nicht der schlechteste Indikator für den Zeitgeist. Neuerdings verschwindet die Botschaft, daß sanfte Behandlung der Dinge ihnen eine besondere Qualität verschafft. Vorbei ist es mit Faserschmeichlern, Schongängen und Softcremes. Sie wirken wie Verirrungen vergangener Generationen. Heute wird der Konsument unverblümt gefragt, ob er hart sein kann zum Schmutz in seiner Wäsche. Da will er sich nicht lumpen lassen. In einem anderen Spot hechtet die Dame des Hauses per Kopfsprung mitten unter ihre Gäste, um ihren Teppich vor einem herabfallenden Schokoladentörtchen zu beschützen. Sie fängt es und bekommt von den Gästen Applaus. Der Härte gegen den Schmutz entspricht die Liebe zum sauberen Heim. Das verlangt Opfer, zuallererst das der Härte gegen sich selbst.
Der Konsument ist in bester Kondition, hat sich jahrelang gesund ernährt, fitgejoggt, seine Muskeln trainiert und alle wichtigen Mineralien und Vitamine eingenommen. Mit diesem Kapital will er nicht brachliegen. Er verlangt nach echter Bewährung und fremdartigem Nervenkitzel. Man ahnt, daß die Erfahrungen erst da anfangen, wo die Kultur aufhört. Das Verlangen nach dem Schritt über die Grenze der gesicherten Zivilisation hinein in die rohe Natur bis hin zur Barbarei der Katastrophe wird immer verführerischer. Das heutige Wirtschaftswunder besteht wohl auch darin, daß man sich echte Lebensgefahr wieder leisten kann.
Aber nirgendwo tut sich ein Schützengraben auf und auch kein Survivaltraining ist in Sicht, nichts, was sich der versammelten Kraft und Energie des Bürgers sperrig in den Weg stellen würde. Er erstickt im Komfort von Dienstleistungen und serviler Technik. Fünfzehn Jahre lang hat er sich sattgesehen an den Filmabenteuern professioneller Heroen. Aber bei der Welle des Katastrophenfilms, die ihren Höhepunkt Mitte der 70er Jahre hatte, ging er letzten Endes ebenso leer aus wie bei den Kriegsfilmen und Horrorvideos, die sich ihr anschlossen. Nichts rührt sich. Volk ohne Erlebnisraum, dem allenfalls die Autoindustrie zu Hilfe kommt mit neuen Modellen, höheren Geschwindigkeiten und Aufprallchancen.
Monströser Überlebenswille mitten in den sichersten Verhältnissen verlangt nach Eigeninitiative des Bürgers. Er muß die Gefahr, in der er sich bewähren will, erst mühsam herstellen. Das ist entweder eine Frage des Geldes oder, für die unteren Einkommensgruppen, eine des Verstoßes gegen Sicherheitsbestimmungen. Arbeitslose Jugendliche klettern aus fahrenden Zügen und S-Bahnen, um sie von außen mit Spraylack zu verzieren, andere lassen sich, gesichert durch lange Seile, von hohen Brücken in die Tiefe fallen . Zahnärzte, Rechtsanwälte oder Psychotherapeuten fahren zur Eisbärjagd nach Kanada, auf Holzflößen reißende Wildbäche hinab oder sagen den letzten aggressiven Amazonasindianern guten Tag.
Aber auch an familiengerechten Gefahrenquellen ist bei genauerem Hinsehen kein Mangel. 1986 besuchten 52.000 Touristen Sellafield, 1987 über 100.000 und 1988 werden es an die 200.000 sein. Geschenkt bekamen sie einen Button mit der Aufschrift „I've been to Sellafield“. Ein Spaß für Groß und Klein, hingegangen und davongekommen zu sein.
Aber auch der direkte Kontakt mit Schauplätzen, an denen andere nicht davongekommen sind oder aller Wahrscheinlichkeit nicht davonkommen, erfreut sich zunehmender Beliebtheit. In Köln versammelten sich Bürger, mit Klappstühlen und Getränken versehen, rund ums Geiseldrama. Und die nordirische Grafschaft Tyrone wurde unlängst nach einem Sprengstoffanschlag auf einen britischen Militärbus zum beliebten Ausflugsziel. Familien reisten mit Picknickkörben und Wolldecken an, stocherten in den Wiesen nach abgerissenen Körperteilen, Kleiderfetzen und Metallsplittern und machten es sich dann gemütlich. Ein eilig errichteter Stand bot „fish and chips“ für die, die nicht vorgesorgt hatten. Mit moralischer Entrüstung über den Mangel an Betroffenheit wird natürlich angesichts solcher Ereignisse nicht geknausert, so in der „Zeit“ von einem Christoph Bertram, der versucht, sich „gegen den Ekel zu wappnen, den solche Berichte wecken“. Aber gerade der Mangel an Betroffenheit ist es ja, der den indolent gewordenen Bürger zu den Orten des Grauens treibt, damit er endlich spürt wie es ist, sich zu ekeln und zu fürchten. In einer künstlich infantilisierten Gesellschaft, in der die Erwachsenen nicht erwachsen werden und den Kindern an Gefahr nur voraus haben wie es ist, wenn man für sich selbst sorgen muß, wirken Sterbende, Krüppel, offene Wunden, überfahrene Hunde und geschlossene Anstalten wie Abenteuer eines Wunderlandes, das hinter verbotenen Türen liegt. Das Verlangen nach Initiation ist selbst bei den Vierzig- und Fünfzigjährigen noch unbezwingbar, und die Erprobung immer neuer Rituale begleiten die Gescheiterten durch den Ruhestand bis ins Altersheim.
Die jüngste Katastrophe in Ramstein hat gezeigt, daß Härte, Mannesmut und martialische Kampfbereitschaft, wenn sie schon vom Einzelnen nicht hervorgebracht werden können, so doch wenigstens zu Bewunderung und Identifikation einladen. Die Bundesbahn warb für ihren Sonderzug nach Ramstein mit dem Versprechen: „Fete, Flieger, Faszination“. Verteidigungsminister Scholz sprach vom Informationsinteresse der Bürger an den „ihre Sicherheit garantierenden Systemen“. 350.000 interessierte Bürger kamen, so als wollten sie sich alle dahin retten, wo es am sichersten ist: In die Nähe der Landesverteidiger. Aber die Systeme fielen aus allen Wolken und die Garantie war dahin. Das Militär verwandelte sich in das Kriegsgreuel, das es ist, und den Bürger samt seinem rohen Sonntagsvergnügen in Schutt und Asche. Die überlebenden Interessenten am „Operationsgebiet Luftraum“ wurden in die umliegenden Intensivstationen verlegt. Ein „wesentlicher Beitrag zur glaubwürdigen Abschreckung“ möchte man meinen, aber weit gefehlt. Einige der Verletzten, denen nur der ganze Rücken oder beide Hände verbrannt wurden, gaben aus ihren Brandbetten heraus dem Fernsehen Interviews und beteuerten, daß ihre Begeisterung für Flugtage keine Einbuße erlitten hätte.
Andere, die etwas eingebüßt hatten, z.B. ein vormals intaktes Kind, sahen den Tatsachen ins Auge und hofften auf die Gnade der Erlösung: „Ich habe meine Tochter vor dem Abtransport gesehen, also an der war gar nichts mehr ganz, gar nichts mehr.“ Wieder andere, denen überhaupt nichts geschehen war, plünderten einen Andenkenkiosk und trugen bündelweise T-Shirts mir Ramstein-Aufdruck davon, wohl wissend, daß sie sich wie Reliquien verkaufen lassen würden.
Daß der Bürger nicht nur im Alltagsleben, sondern auch mitten im Inferno hart bleiben kann, bewies auch der 25jährige Kameramann, der die Szenen festhielt, die bis heute immer wieder gezeigt werden. Selbst den Moment kurzer Schwäche verzeiht der Konsument, danach ist nichts mehr zu beanstanden an Bildausschnitt und Qualität. Befragt, wie es zu dem Abgleiten der Kamera gekommen sei, erklärte er, sich im ersten Schreck hingeworfen zu haben. Dann sei er aber sofort wieder aufgestanden, um weiterzudrehen inmitten verkohlter Leichen und schreiender Kinder, denn: „Das kannst du nicht verkraften, da drehst du einfach weiter.“ Einer, der so weiter dreht, statt durchzudrehen oder wenigstens ein schreiendes Kind zu trösten, der hat eine Erfolgskarriere vor sich.
Und auch jene gellenden Schreie nach „Tanja“, die der ganzen TV-Nation noch in Erinnerung sind, wurden aufgeklärt. Das Lob gebührt der Regenbogenpresse. Dank Quick wissen wir: „Tanja lebt. Sie ist der Feuerhölle unverletzt entkommen.“ Sie ist 15 und aus Krickenbach. Vorher hat sie „sowas“ höchstens mal im Kino gesehen. Im Interview mit Quick sagt sie u.a.: „Die Realität ist noch viel grausamer als ein Film überhaupt sein kann.“
Aber man muß nicht nach Ramstein gehen, um in einer Kerosinexplosion umzukommen oder eine abstürzende Militärmaschine zu sehen, die Düsenjäger kommen zum Bürger nach Hause, bohren sich in sein Dach, in Vorgärten, Wiesen, Felder und Wälder. In diesem Jahr bereits 13mal. Das bringt der „Rasierflug“, wie es im Fachjargon treffend heißt, so mit sich. Der Bürger muß Opfer bringen können als „Preis unserer Freiheit“, und er kann.
Für die Folgekosten größerer und kleinerer militärischer Katastrophen kommt das „Amt für Verteidigungslasten“ auf, das die „Schadensabwicklung“ übernimmt. Nach Ramstein ist der Personalbestand „aufgestockt“ worden, und so wird der Ausnahmezustand wieder unter die Obhut einer Behörde gebracht und ist weitgehend entschärft.
Verteidigungsminister Scholz will nun durch eine Untersuchung klären lassen, “...auf welche Weise unseren Bürgern in Zukunft Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Luftstreitkräfte überzeugend dargestellt werden können.“ Den passenden Mann hat er bereits gefunden. Es ist Steinhoff, General a.D., früherer Inspekteur der Luftwaffe und noch früherer Kommandeur des 1.Düsenjägergeschwaders der Wehrmacht. In seiner Person vereinen sich Bock und Gärtner auf ideale Weise. Unzählige Male abgeschossen und verbrannt, stand er immer wieder seinen Mann und flog weiter, unentwegt im Dienste der Vaterlandsverteidigung, sei es nun faschistisch oder demokratisch. Er nimmt das Kriegshandwerk ernst, ist gegen Kunstflugveranstaltungen, aber für den Tiefflug als Übungsdisziplin: „Die Luftwaffe war gut beraten, von der Aufstellung einer Kunstflugstaffel Abstand zu nehmen. Millionen leben noch, die den Bombenkrieg miterlebt haben. Die deutsche Seele ist empfindlich und wund. (...) - der fliegerische Dienst in Luftwaffe und Marine bietet ausreichend Gelegenheit, sich zu bewähren.“ Die, die den Bombenkrieg mitgemacht haben, und zwar aktiv und von oben herab, werden dem Volk jetzt wieder beibringen, was echte Bewährung ist und was gefährliches Rabaukentum.
Auf dem Berliner Oktoberfest bietet ein Schausteller in seinem Katastrophensimulator Infernoerlebnisse an. Ein zehn Meter großer Affe animiert das Publikum mit folgenden Worten: „Kommen Sie herein und sehen Sie, wie alles, aber auch alles zu einem Chaos wird. (...) Das Inferno ist ja eine publikumssichere und familienfreundliche Action -Schau.“
Freunde von High-tech-Inszenierungen erwartet eine Enttäuschung. Die Sensationen sind primitiv. Von infernalischem Lärm begleitet, stolpert man über Rüttelanlagen, sich gegeneinander verschiebende Bodenplatten, rotierende Scheiben und über Abschnitte, bei denen man auf alles gefaßt ist, nur nicht darauf, daß sie einfach nur fester Boden sind. Es ist eine Geisterbahn für Fußgänger. Wer sie im Dunkeln durchtappt, hat Mühe, seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Der ist den alten Irritationen noch nicht gewachsen. Taumelnd verläßt der Leib die Anlage, aber der Kopf fühlt sich geneppt.
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