: Zwischen Duras und Guldenburg
■ Gerhard Midding unterhielt sich mit dem französischen Schauspieler Daniel Gelin
Monsieur Gelin, die Anfänge Ihrer Karriere verlieren sich in einem Labyrinth aus Unklarheiten und sich widersprechenden Filmographien. Haben Sie nun zuerst auf der Bühne oder beim Film debütiert?
Die Wahrheit ist folgende: Als ich mit 17 Jahren meine Provinz, die Bretagne, verließ, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Kino zu machen und zwar speziell komisches Kino. Ich kam in Paris in den ersten Kriegsjahren an und hatte das Glück, daß viele Schauspielschüler an der Front waren. Ich bewarb mich an der Schauspielschule von Rene Simon und dachte zunächst nicht im Traum daran, daß man mich annehmen würde. Auf der Schule lernte ich Gerard Philipe, Maria Caseres und Michel Auclair kennen, aber auch Komiker wie Louis de Funes und Robert Dhery. Ich wollte am liebsten in komischen Rollen auftreten, als Scapin oder George Dandin. Damals sah ich sehr mager, langhaarig, ein wenig beängstigend aus und mein Lehrer riet mir, dramatische Rollen zu versuchen, schon allein deshalb, weil keine der Schülerinnen mir in komischen Rollen Repliken geben wollte. Als ich ernste Stücke spielte, z.B. mit Maria Casares in einem Ibsen-Stück, hatte ich größeren Erfolg und rührte das Publikum zu Tränen. Ich nahm den Rat meines Lehrers ernst und wählte als meinen Vorsprechtext am conservatoire einen Monolog aus „Lorenzaccio“ von Musset. Von da an hatte ich zwei Etiketten: zum einen tragische, pathetische Rollen spielen zu können und zum anderen komische. Mein Bühnendebüt war in einem komischen Stück eines Autors, der später ein berühmter Regisseur wurde: Clouzot. Das war im Grand Guignol, jenem Theater, das eigentlich für Gruselstücke bekannt war, wo man aber tatsächlich zwischen solchen Stücken und heiteren abwechselte. Seither habe ich - sofern es meine physische Präsenz und meine schwache Stimme zuließen - versucht, alles Mögliche zu spielen und mich nicht auf ein Fach festzulegen. Schauen Sie, im Moment spiele ich den Baron de Sotenville in „George Dandin“ von Moliere, einen Aristokraten. Vor kurzem habe ich einen Film mit Richard Anconnina und Jean Paul Belmondo unter der Regie von Claude Lelouch beendet, da spiele ich eine sehr volkstümliche Figur, vulgär, oftmals betrunken, immer argot sprechend. Zur Zeit drehe ich in Hamburg Folgen einer Fernsehserie, eine Art Ersatz-Dallas: „Das Erbe der Guldenburgs“. Dort habe ich ein Verhältnis mit einer Herzogin, die Christiane Hörbiger spielt. Die Dreharbeiten machen mir sehr viel Spaß, denn natürlich kannte ich ihren Vater Attila und ihren Onkel Paul, die für mich eine Schauspielerdynastie wie die Barrymores in Amerika waren. Außerdem hatte ich das große Vergnügen, eine ältere Dame während der Dreharbeiten kennenzulernen, die ich schon während der Besatzung in Paris im Kino bewundert habe: Brigitte Horney. Im Anschluß daran spiele ich die tragische Rolle eines in Algerien lebenden Franzosen, der in die Kriegswirren verstrickt wird. Sie sehen, ich bin in einer Situation, fernab jeden Etiketts meine Rollen auswählen zu können.
Worin sahen Sie die Vergleichbarkeiten und Unterschiede zwischen Jacques Becker und Max Ophüls, mit dem Sie „La Ronde“ und „Le Plaisir“ drehten?
Zunächst einmal teilten beide die Liebe zum Schauspieler. Max war selbst Schauspieler gewesen und brachte ein tiefes Verständnis mit. Er hatte auch vor dem letzten Statisten Respekt. Aber seine Technik unterschied sich vollständig von der Jacques‘, für den der Schnitt ungeheuer wichtig war. Ich hatte bei einem take kaum Luft geschnappt, da rief Jacques schon immer „Cut“. Bei Max war das ganz anders: er liebte Kamerafahrten und Plansequenzen über alles. Denken Sie an meine Szene mit Danielle Darrieux in „La Ronde“: eine lange Liebeesszene in der Wohnung mit viel Dialog, dann gehen wir die Treppe hinunter - alles ohne einen Schnitt - und gehen auf der Straße zu einem Fiaker - noch immer kein Schnitt, sie steigt ein, ein Abschiedsdialog, sie fährt, ich gehe zurück ins Haus: alles in einer Einstellung. Mit Max arbeitete man eben immer so und mir war das auch sehr angenehm, denn auf diese Weise entstand eine große Komplizenschaft zwischen mir und dem Kameramann, wir mußten uns beide genau absprechen, waren aufeinander angewiesen. Aber auch hier diente die Technik dem Schauspieler. Ich sagte immer: „Becker, das ist der französische Stil und Ophüls, das ist der wienerische Stil.“
Eine der atemberaubendsten Kamerafahrten gibt es in „Le Plaisir“: den Selbstmordversuch von Simone Simon. Wie wurde die Szene gedreht?
Sie erinnern sich an die Situation im Film? Sie will mich heiraten, aber ich fliehe vor ihr in das Atelier eines Freundes. Eines Abends kommt sie ins Atelier und droht mir: „Wenn du eine andere heiratest, stürze ich mich aus dem Fenster!“ Sie hätte sich gleich aus dem Fenster nebenan stürzen können, aber das war Max zu einfach: er war auf eine komplizierte Kamerafahrt aus. In dem Atelier gab es noch eine Treppe in eine andere Etage und Max wollte, daß sie die Treppe hinaufläuft und sich aus einem Fenster in der oberen Etage stürzt. Also mußte ich meinen Dialog ändern und auf ihre Drohung erwidern: „Ja, ich hab‘ nichts dagegen. Oben ist ein Fenster!“ Die Kamera nimmt nun die Perspektive von Simone ein: sie rast die Treppe herauf, dem Schatten Simones folgend, die Balustrade entlang, zum Fenster, das aufgerissen wird und dann stürzt sie sich hinunter auf ein Glasdach. Das haben wir drei Tage lang geprobt. Der Kameramann mußte einen Schutzhelm tragen, denn, obwohl die Kamera befestigt wurde, war das eine gefährliche Sache. Wir haben es zwei, nein, dreimal gedreht. Als wir fertig waren, habe ich zum allerersten Mal erlebt, daß ein Regisseur sich ganz förmlich bei jedem auf dem set bedankte, bei jedem einzelnen Techniker. Nun, am nächsten Tag schauten wir uns die Muster an. Das Resultat war ganz ausgezeichnet, bis auf den Sturz aus dem Fenster: wir mußten feststellen, daß die Kamera nicht drei Etagen, sondern nur drei Meter in die Tiefe stürzte! Glücklicherweise hatte der Regisseur, der „Zufall“ hieß, drei takes gedreht und das Material aus den drei takes konnte zusammengeschnitten werden. (lacht) Wenn Sie sich die Szene noch einmal anschauen, achten Sie einmal auf die Schnittstellen: man bemerkt sie an kurzen Lichtblitzen.
1954 haben Sie für Sacha Guitry „Napoleon“ gespielt, eine Rolle, die Sie sich kurioserweise mit dem Schauspieler Raymond Pellegrin teilen. Was zeichnete Guitry in Ihren Augen als Regisseur aus?
Von allen Regisseuren, die ich kennengelernt habe, war er derjenige, der zu den Schauspielern am liebenswertesten war. Er sprach sehr zivilisiert, wie Voltaire. Das schaffte bei den Dreharbeiten eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre. Sogar unseren Kamerammn, der den vulgärsten argot sprach, redete er auf diese Weise an: „Monsieur, wären Sie so überaus freundlich, die Kamera hier zu postieren?“
Natürlich möchte ich nach Ihren Erfahrungen mit Hitchcock fragen, mit dem Sie „The Man who knew too much“ gedreht haben. Er war ja bekannt dafür, den Schauspielern keine Regieanweiseungen zu geben. War das für Sie eine große Umstellung?
Hitchcock hat mir rein gar nichts erzählt, von ihm habe ich überhaupt keine Regieanweisungen oder Erklärungen bekommen. Wir trafen uns in Paris und er erzählte mir, daß er mich in „Les Mains sales“ und „La Neige etait sale“, einer Simenonverfilmung, gesehen hatte, machte mir aber gleichzeitig klar, daß diese Rolle ganz anders sei. Er sagte: „Wer so viel kann, der kann auch weniger“, womit er meinte, daß ein Schauspieler wie ich sein expressives Spiel auch zurückhalten könnte. Während der Dreharbeiten wunderte ich mich, daß weder James Stewart noch Doris Day irgendwelche Fragen stellten. Ich war in dieser Hinsicht ganz anders, ein französischer Geist, der alles analysieren will. Mit sichtlichem Vergnügen erwiderte Hitchcock auf meine Fragen nach dem „Wie?“ oder „Warum?“ immer nur mit technischen Erklärungen: „An dieser Stelle schneide ich. Hier machen wir eine Nahaufnahme“, usw. Außerdem verriet er in seiner diabolischen Boshaftigkeit allerlei Vertraulichkeiten und Anzüglichkeiten. Eine wirklich ungewöhnliche Erfahrung! Dabei war er ein wirklich liebenswerter und charmanter Mann.
Zwar ist meine Rolle in „The Man who knew too much“ nur sehr klein, aber die Szenen stecken voller fast surrealistischer Einfälle. Vor allem die Verfolgungsjagd in der Casbah, bei der ich die Farbtöpfe umrenne und meine Verfolger fortan meine Fußspuren an der weißen Farbe erkennen können. Niemand in Marrakesch käme auf die Idee, sein Haus in einem solch grellem Weiß anzumalen, aber Hitchcock kam es vor allem auf den Effekt an.
Das Aufkommen der nouvelle vague bedeutete für Ihre Karriere einen gewissen Einbruch. Woran lag das?
Die nouvelle vague bedeutete für mich zunächst ein echtes Problem, obwohl ich selbst ebenfalls für Veränderungen, z.B. im Hinblick auf das Starsystem, war. Ich war letztendlich mit ihren Ideen einverstanden. Aber ich wurde ein Opfer des kleinen Terrorismus der nouvelle vague! An erster Stelle war es Truffaut, der mich ausboten wollte: „Er hat mit Duvivier und Delannoy gearbeitet - das ist altes Kino. Fort mit ihm!“ Wenn ich bedenke, daß alles, was es Gutes in Truffauts Filmen gab, von Becker stammt, dessen Lieblingsschauspieler ich war... Danach hatte ich wirkliche Schwierigkeiten. In die Bewegung aufgenommen wurde ich erst etwas später dank Pierre Kast und Alexandre Astruc, mit denen ich Anfang der sechziger Jahre Filme machte. Einige Jahree danach arbeitete ich dann auch mit Chabrol und Louis Malle, welcher freilich nicht unmittelbar zu der Bewegung gehörte. Dennoch: in der ersten Zeit abgeschrieben zu sein, war schrecklich, schrecklich, schrecklich. (lacht) Nun, ich will mich selbst nicht zum Märtyrer hochstilisieren, denn letztendlich stelle ich das Leben vor meine Arbeit als Schauspieler und habe außerdem eine Vielzahl von Leidenschaften: ich schreibe Gedichte - meine Anthologien waren in Frankreich Bestseller, ich schreibe über Gartenbau und Botanik - den Botanischen Garten hier in Berlin und Planten und Blomen in Hamburg, wo ich gerade drehe, kenne ich auswendig. Die Poesie, die Botanik, Kinder und ab und zu die Arbeit als Schauspieler, das sind meine Leidenschaften.
Obwohl Sie in den sechziger und siebziger Jahren eher sporadisch im Kino arbeiteten, entstanden in dieser Zeit einige Ihrer interessantesten Filme. Ich denke z.B. an zwei Filme, die Sie mit Margeruite Duras drehten - „Detruire, dit -elle“ und „Les enfants“. Zwischen den beiden Filmen liegen mehr als 15 Jahre. Hat sich in der Zeit die Arbeitsweise der Duras verändert?
Nun, sie beherrschte beim zweiten Film die Technik natürlich besser. Mit Margeruite arbeitet man immer auf eine besondere Art und Weise. Man trifft sich in ihrem kleinen Apartement in St. Germain de Pres und liest das Drehbuch wie ein Theaterstück. Man probt drei Wochen lang und dabei wird sehr viel am Buch verändert - man schreibt als Schauspieler selbst ein bißchen mit, in einem Geist der Komplizenschaft. Und bei den Dreharbeiten ändert sie dann wieder alles! Es wird Sie vielleicht überraschen, aber die gleiche Erfahrung habe ich mit Claude Lelouche gemacht, der eine vollständig andere Art von Kino macht. Beide verändern den Text ununterbrochen, wie es ihnen eine Laune eingibt. Die Filmarbeit ist für sie wie das Schreiben für den Dichter: ein Prozeß, der ständig in Bewegung ist und Veränderungen unterworfen ist. Immerhin gibt es bei Margeruite noch ein Buch, welches dem Film zugrunde liegt. Bei Lelouch gibt es nicht einmal das. Oft kamen Richard Anconnia und ich zum Drehort, ohne zu wissen, welche Szene gedreht werden sollte. Ursprünglich sollte ich in dem Film mein Dienstmädchen heiraten, wir kamen beide auch schon in Hochzeitskleidern auf den set, aber mußten dann erfahren, daß Lelouch es sich anders überlegt hatte! Er verlangte von uns die absolute Improvisation.
Wie würden Sie das aktuelle französische Kino charakterisieren und was für Perspektiven sehen Sie?
Ich glaube, daß sich heutzutage wieder viele junge Regisseure vom französischen Vorkriegskino inspirieren lassen. Godard ist man allmählich leid! Becker erlebt eine Art Renaissance. Vor kurzem spielte ich in dem Erstlingsfilm eines jungen Mannes namens Etienne Chatelier mit, „La vie est un long fleuve tranquil“, der deutlich zeigte, daß Becker sein Vorbild ist: von der Art, wie sich die Technik ganz logisch der Geschichte unterordnet. Obwohl es keine Stars in dem Film gab und nur wenig Werbung für ihn gemacht wurde, übertrafen die Einspielergebnisse die des „Letzten Kaisers“. Ich muß daran denken, wie ich selbst einmal einen Film inszenierte, „Les dents longues“, Anfang der fünfziger Jahre: da ich mit Orson Welles und Alexandre Astruc befreundet war, erwartete alle Welt, daß ich einen Film mit furchtbar komplizierten Kamerawinkeln und -fahrten drehen würde, aber ich habe mich von der Einfachheit Renoirs und Beckers beeinflussen lassen. Louis Malles letzter Film aber auch „Le souffle au coeur“, den wir vor einigen Jahren zusammen drehten - beweist, daß für ihn die Technik auch nur dem Humanismus der Geschichte dient. Auch er hat einen sehr zurückhaltenden Kameralstil. Ich glaube, die wildbewegte Kamera gehört nur noch in die Videoclips.
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