Von Kleist zur RAF

■ „Wolken-Heim“, eine Invention zu Heinrich von Kleist von Hans Hoffer und Elfriede Jelinek im Schauspiel Bonn

Wenn wir mit der Welt nicht mehr zurechtkommen, beschäftigen wir uns mit uns selbst: Das Theater beschäftigt sich mit dem Theater, die Deutschen mit den Deutschen. Die Theater in Nordrhein-Westfalen scheinen sich geeinigt zu haben, daß natioanle Selbstanalyse Thema dieser Spielzeit werden soll. In Wuppertal startet der neue Intendant Holk Freytag mit einem „Projekt Deutschland“, in Bochum arbeitet Intendant Steckel schon seit langem an einem Deutschland-Zyklus, und in Bonn hat man gleich der ganzen Spielzeit den Titel „Wir Deutschen“ gegeben.

Heinrich von Kleist ist der Dramatiker des Repertoires, an dem sich der Zusammenhang von Identitätsdiffusion und Identitätshypertrophie der Deutschen am besten studieren läßt. Nun werden wir also diverse „Homburger Prinzen“ und „Zerbrochene Krüge“ über uns ergehen lassen müssen. Die Kleist-Welle rollt.

Das Schauspiel Bonn hatte als Auftakt ein Projekt angekündigt, das nicht weniger ehrgeizig klingt als Hans Neuenfels‘ Kleist-Revue an der Berliner Volksbühne. Hans Hoffer wolle eine „Invention zu Heinrich von Kleist“ mit einem Text von Elfriede Jelinek vorführen. Dabei solle es um nicht weniger gehen als um einen „Beitrag zur Diskussion um die große Tradition des deutschen Geisteslebens“ und um eine „Rekonstruktion der großen alten Werte Heimat, Vaterland, Opfer, Natur und Bestimmung“. Moralischer Wiederaufbau also. Na, wenn das kein Hauptstadtprojekt ist.

Die Deutschtümelei beginnt bereits draußen: Aus Lautsprechern plärren Männerchöre über den Parkplatz, und wenn man zwischen den beiden Bäumen des Vorplatzes hindurchgeht, kommt man in einen sprechenden Wald, in dem jeder Stamm uns eine Zeile aus Clemens Brentanos Gedicht „O kühler Wald“ zuraunt. Im Foyer kann man einen Frack bestaunen, dessen Innenseite mit Kleists Abschiedsgedicht an Henriette Vogel beschrieben ist, und dann kommt man in die riesige, dunkle Fabrikhalle: eine Monumentalgruft. In irgendein Heldengrab werden wir hier mit eingesargt. Als schmückende Ornamente dienen lediglich weiße Frakturlettern am Boden und auf Gazevorhängen, die Kleists berühmte Schrift „Über das Marionettentheater“ zitieren.

Nun müßte das Theater beginnen. Aber alles, was passiert, ist, daß sich unendlich langsam ein überdimensionierter Volksempfänger durch den Raum bewegt und einige ältere Herren mit Neonröhren in der Hand in choreographischen Arrangements durch die Halle schlurfen. Die Biografien dieser 60 bis 90 Jahre alten Männer im Programmheft zu lesen, ist allemal spannender als ihnen bei ihrer Hantiererei zuzusehen. Hans Hoffer ist Bühnenbildner, er hat einen Raum geschaffen, Elfriede Jelinek ist Schriftstellerin, sie hat einen Text geschaffen. Einen Regisseur gibt es nicht, also auch kein Schauspiel, nur ein Raumhörspiel. Zwar hängen auch fünf Schauspieler in Käfigen, die Flugapparaten gleichen, von der Decke, aber auch sie werden nur als Lautsprecher zur Textrezitation benutzt. Ansonsten lauschen wir dem Volksempfänger.

Und aus dem tönt, von einer Frauenstimme gesprochen, ein seltsamer Text: ein Gemenge von Zitaten aus Kleists „Penthesilea“, Hölderlins Gedichten, Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ Hegels Vorlesungen über Geschichtsphilosophie, Heideggers Rektoratsrede von 1933 und Briefe der RAF-Häftlinge aus der Zeit ihres Hungerstreiks 1977.

Schon diese Zusammenstellung der Textquellen enthält eine provozierende These: die Kontinuität der deutschen Ideologie von Kleist über Hegel und die Nazis bis zur RAF. Zum anderen wird durch das ständige Umkreisen der Begriffe „Boden“, „Geschichte“, „Tod“ nahegelegt, die deutsche Geschichte sei eine Geschichte der Toten, die nicht sterben können. Alexander Kluge hat dafür das Bild aus dem Grimmschen Märchen „Vom Eigensinnigen Kind“ angeführt: das böse Mädchen, dessen Hand immer wieder aus dem Grab wächst. Diese „Vergangenheit, die nicht vergeht“, das Thema des Historikerstreits, sie ist auch das eigentliche Thema von Elfriede Jelineks Text.

Teils wörtlich wird aus den Quellen zitiert, teils sinngemäß, teils sinnentstellend, teils im Stil der Zitate frei phantasiert. Der Text kombiniert inhaltlich disparate, aber sprachlich ähnliche Sätze so, daß ein historisches Konzentrat von Sprachformeln deutschen Selbstverständnisses entsteht, ein zeitloser deutscher Identitätsjargon sozusagen. Hier wird Ideologiekritik durch Sprachmontage betrieben. Tatsächlich werden die großen alten Begriffe von Heimat, Volk und Vaterland also dekonstruiert, zersetzt und nicht rekonstruiert. Alles Pathos des Textes ist nur ironisch. Keine Gefahr also, daß die Veranstaltung zur Heldengedenkfeier oder zur nationalen Erwechkungsandacht geriete, aber auch keine Chance, daß der Abend zur sinnlichen Aufklärung über die deutsche Geschichte beitragen könnte. Das Ohr wird überfordert durch einen komplizierten Text, das Auge wird gelangweilt durch düstere Statik. Das ist bestenfalls Museumsdidaktik mit verschärften Mitteln, aber kein Theater.

Gerhard Preußer