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Der Weisheit Anfang

■ Hans Blumenbergs neuestes Buch ist Bachs Matthäus-Passion gewidmet. Eine der Abschweifungen, die ins Zentrum der mit ihr verbundenen Fragen führen, drucken wir heute ab. Wir danken dem Suhrkamp-Verlag für die freundlich erteilte Genehmigung.

Hans Blumenberg

In der Aula der altehrwürdigen Schule, der schon Thomas Mann die Ehre vorenthalten hat, sie bis zum Abschluß zu besuchen, stand an der Stirnseite über der Orgel und den Bildnissen der Reformatoren Luther und Bugenhagen - dessen als des Verweltlichers der einstigen Klosterschule - in gotischen Lettern der Bibelspruch: Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Da offenbar die Kosten für eine andere Wandbeschriftung nicht aufzubringen waren oder die Herkunft des Spruches den neuen Herrschern unbekannt war, hielt noch der braune Direktor nach 1933 seine als 'Reden‘ überbewerteten Ersatzleistungen für die vormaligen Montagsandachten unter jenem Weisheitsspruch ab.

Ein halbes Jahrhundert später veröffentlicht der 'Ärzteverein zu Lübeck‘ eine Festschrift zu seinem 175jährigen Bestehen 1984. Zu den menschlich anrührendsten Beiträgen gehören die 'Kindheitserinnerungen eines Lübecker Arztes‘ von Ulrich Thoemmes. Seinem Gymnasium, das er 1930 bezog, wie seinen Lehrern dort kann er kein gutes Andenken attestieren. Er fand den rüden Ton einer preußischen Kadettenanstalt - statt den einer freien Stadtrepublik angemessenen - und den übertriebenen Gehorsamsanspruch eines durch das Kriegserlebnis gezeichneten, von Ablehnung des Weimarer Staates erfüllten Kollegiums vor. All das schon dem Knaben Anstößige kulminierte für ihn bei jenen Montagsandachten angesichts des Aulaspruches von der Furcht des Herrn, womit stellvertretend natürlich nur die Furcht von den Lehrern gemeint sein konnte, die mit Drohgebärde seitwärts der Schülerbankreihen aufgereiht saßen und diesem Fürchtegott-Ritual beistanden. Überdies erschienen ihm noch die Lehrer als willige Erfüllungsgehilfen der beiden düsteren Talarträger auf den Reformatorenbildnissen, die im Rückblick den Mönchsfrohsinn aus dem Backsteingemäuer neben Sankt Katharinen vertrieben zu haben schienen.

Der Erinnerungsraum des Arztes samt Inventar war auch der meinige, das Personal auch das meines Rückblicks, die Daten auch die meiner Schulgeschichte, deren Düsternis die des Freundes noch um einiges übertroffen haben mochte. Nur war mir das Zentrum seiner Schulwelt eigentümlich fremd. Mir war in den vielen Montagsandachten nie eine Beziehung aufgegangen zwischen dem Spruch des Alten Testaments und den mehr oder minder autoritären, überwiegend wohlwollenden Lehrergestalten auf den Seitenbänken, die sich so redlich langweilten und durch die zahllosen Strophen des Chorals hindurchquälten wie wir. Wer hatte schon am Montagmorgen so viel Lust und Grund, Gott auf herrliche, aber langhingezogene Weise zu loben?

Mich hat überrascht - zu meiner Schande muß ich es gestehen -, wie Ulrich Thoemmes den Wandspruch verstanden hatte. Grammatisch gesprochen mit dem Genetivus obiectivus: mit der Furcht des Herrn als der vor dem Herrn. Auf diese Lesart war ich in all den Jahren nie gekommen. Für mich war selbstverständlich, daß es ein Genetivus subiectivus war: die Furcht des Herrn als die seine vor etwas anderem, was zu fürchten eben der Anfang seiner Weisheit gewesen war. Und es stand damit auch schon fest, daß jene Herrenfurcht sich auf den Menschen gerichtet hatte, als er ihn nicht teilnehmen ließ an seinem Paradies, nachdem er sich zum gefährlichen Mitwisser der Erkenntnis von Gut und Böse gemacht hatte.

Diesen Menschen zu fürchten und seine Gottgleichheitsambition hart zu verfolgen durch eine ganze Geschichte hindurch, das erschien mir ganz zwanglos als der Inbegriff des in dieser Aula gepflegten Glaubens an jenen Anfang einer Weisheit, die viele Formen annehmen sollte auch die der an dieser Schule beheimateten humanistischen Ausprägung, ihres grammatischen Drills und der asketischen Vorbehalte vor dem Genießenwollen der Früchte solcher Exerzitien.

Das Schlimmste, was zu gestehen mich die Erinnerungen meines Freundes nun veranlassen und ausdrücklich mir klarzumachen sie mir allererst verholfen haben, ist in kurzer Confessio: Trotz seither erlangten besseren Wissens ist meine kindliche Lesart des Aulaspruchs der Tenor meiner 'Theologie‘ geblieben, sofern sie diesen Namen verdient. Die Heilsveranstaltungen Gottes kamen zwar dem Menschen zugute, waren aber Vorkehrungen zur Sänftigung seiner Eigenmacht und Aufsässigkeit, Einladungen zu einer befriedeten Gemeinschaft unter Ausschluß derer, die sie durchaus nicht wollten. Sie waren der Restbestand dessen, was der Herr am Anfang seiner Weisheit zu fürchten gehabt hatte.

Erst viel später wurde mir klar, daß die 'Furcht des Herrn‘ sehr weit gehen mußte, wenn der 'Tod Gottes‘ die letzte Drohung des Menschen in seiner Selbsterhebung zum 'Übermenschen‘ war. Es erschien mir als eine zu 'billige‘ Vorstellung zu meinen, daß ein allmächtiger Gott von einem so elenden Wesen nichts zu fürchten hätte - immerhin sollte dieses sein Ebenbild und Gleichnis sein. Wozu er es ausdrücklich gemacht hatte und sich folglich der Machtmittel begab, ihm den metaphysischen Ehrgeiz mit Gewalt auszutreiben. Wer so etwas wie den Menschen gemacht hatte, muß auch als 'Herr‘ auf Furcht vor seiner Kreatur gefaßt sein und das Instrument der Weisheit zu gebrauchen sich abfinden.

In welcher guten Gesellschaft von Häretikern ich mich mit solcher Lebensauswertung des Aulaspruches befand, wurde mir erst als altem Mann klar: als ich bei der zum Hobby betriebenen Erarbeitung der 1945 bei Nag Hammadi in Oberägypten gefundenen gnostischen Texte auf die „Hypostatis der Archonten“ stieß. Hier ist, wie in vielen Spekulationen der Gnosis, die Sophia höchste oder eine der höchsten Instanzen des Universums, und 'der Herr‘ der Weltschöpfer, der Demiurgos. Der Gott Alten Testaments also mit wechselnden Namen - hier: Samael - eine Figur verblendeter Überheblichkeit, von der sich sagen läßt, sie mußte erst das Fürchten gelehrt werden, um sie weise zu machen - und dies im strikten Sinne: durch die Sophia, die Weisheit.

Gnosis ist ein System der Zurechtweisungen und Überwältigungen des Welt-Herrn durch die Überwelt-Weisheit. Der Wege zu solcher Belehrung in 'Furcht des Herrn‘ sind spekulativ viele und durch viele Instanzen gehende. Der gnostische Lehrer Justinus beschreibt das Entsetzen, das den Weltherrn packt, als er erkennen muß, daß er nicht der Gott des Alls war, nicht einmal nur einen Gott neben sich, sondern eine Übergottheit über sich hatte, die als Weisheit ihm genügend Weisheit induzierte, um seine Furcht in jene Bewunderung umschlagen zu lassen, die die Griechen - die hier immer auch im Spiele sind - die Weisheit entdeckt haben ließ. Der Gnostiker Justinus im Apokryphon von Nag Hammadi zitiert wörtlich: Dies ist die Bedeutung des Ausspruchs: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang.„

Gelegentlich beglückt uns das Leben durch Fälle von Koinzidenz. Daß sie uns beglücken, hängt mit ihrer mythischen Natur als 'Bedeutsamkeiten‘ zusammen. So stieß ich, zeitlich nahe benachbart dem Fund in der „Archontenhypostasis“, auf eine Marginalie von Schopenhauer, die er in der Kantbiographie von J. Ch. Mortzfeld „Fragmente aus Kants Leben“ (Königsberg 1802) zu einer Stelle angebracht hatte, wo von Kants Offenherzigkeit und Zutrauen zu anderen die Rede ist. Schopenhauer hat dazu notiert: Salomon dit que le commencement de la sagesse est la crainte de Dieu: mais je crois que c'est la crainte des hommes. Das ist die anthropologische 'Umbesetzung‘ der Stelle, an der den gnostischen Weltherrn das Entsetzen gepackt hatte; nur wird nicht mehr in der Vertikalen gefürchtet, sondern in der Horizontalen - es sei denn, man denkt hier an den 'Willen‘ statt an die Sophia als den letzten Grund aller Furcht, von der ein Weltwesen befallen werden kann, wenn des Willens alleiniger Platzhalter seither des Daseins Angst geworden ist.

Noch einmal zurück von der Häresie und der schwarzen Metaphysik zum Ausgangspunkt des rechten oder unrechten Glaubens: zur Lübecker Reformation und zu ihrem derzeitigen Hüter, dem Landesbischof Ulrich Wilckens. Er war, noch als Professor fürs Neue Testament, einer der schärfsten und scharfsinnigen Kritiker meiner „Legitimität der Neuzeit“, nicht ohne mir als erster zu bescheinigen, das Buch bezeichne eine sehr fruchtbare gemeinsame Basis für das von ihm (sc. mir) gesuchte und provozierte Gespräch mit Theologen. Ich hoffe, ich habe ihn nicht enttäuscht oder bin nicht gerade dabei, es zu tun.

Doch wäre diese Hoffnung zu äußern wohl kein zureichender Grund, den alten Bekannten als Prediger im Lübecker Dom hier einzuführen, hätte er nicht zu den schon erwähnten Diskordanzen und Koinzidenzen so etwas wie die coincidentia oppositorum bereitgestellt. Gerade im Jahr 1966, als mein erwähntes Buch erschien, stand sein hochgelehrter, zu einer ganzen Monographie etablierter Artikel „Weisheit“ (sophia) im siebten Band des „Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament“. Im Zentrum dieses Arikels wiederum gab es den Satz, der Licht auf die so lange unausgesprochene, nur zufällig bemerkte Jugenddifferenz in der Aula der alten Schule warf - um nicht zu sagen: sie in 'humanistischer‘ Weise erklärte. Kein Grieche hätte je begreifen können, ist der Tenor, daß und wie die beiden Begriffe Furcht und Weisheit einen Zusammenhang eingehen sollten: Wie fremd klingt griechischen Ohren z.B. das unmittelbare Nebeneinander von phobos kyriou und sophia. Woher denn auch bestimmte Übersetzerneigungen bei der griechischen Wiedergabe weisheitlicher Grundbegriffe sich ebenso erklären wie Umprägungen der Texte unter der Hand in griechische Denktraditionen.

Auch was sich in den beiden Schülerhirnen unter dem Weisheitsspruch des Königs Salomo abspielte, war im Grunde nur Fortsetzung jenes alexandrinischen Unverstands für einen fremden Gott, dem die Sprache der 'Siebzig‘ nicht passen konnte. Was der „Septuaginta‘ nicht gelingen wollte, mißlang zwei Jahrtausende später durch grammatisch ganz unverfeinerte Verwechslung der Genetive.

Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Suhrkamp-Verlag, 320 Seiten, 19,80 DM

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