: Der Geist Barschels kommt wieder
Genfer Justiz: Ermittlungen noch lange nicht beendet / Kriminologe: Mordthese vernachlässigt ■ Aus Genf Andreas Zumach
Barschel: Mord oder Selbstmord - das ist wieder die Frage. Wenige Tage vor dem Jahrestag des Todes von Uwe Barschel am 11.Oktober 1987 im Genfer Hotel „Beau Rivage“ gibt es neue Hinweise, daß die bisher verbreitete Annahme vom Selbstmord durch eine Überdosis Schlaftabletten nicht zutrifft. Die zuständigen Schweizer Behörden verfolgen offenbar inzwischen auch die Mordthese intensiver als bisher. Die mit dem Fall befaßte Ermittlungsrichterin Claude-Nicole Nardin teilte gestern mit, daß die Ermittlungen weitergingen und ihr Abschluß sowie die Vorlage eines offiziellen Untersuchungsberichtes der Justiz nicht absehbar seien. Zwar motivierte Nardin diese Mitteilung nach monatelanger absoluter Nachrichtensperre mit „Fragen der internationalen, insbesondere der bundesdeutschen Medien“. Tatsächlich aber dürfte es sich um eine Reaktion auf das vor wenigen Tagen veröffentlichte Buch Tod in Genf des Luxemburger Kriminologen Armand Mergen handeln. Mergen, Professor in Mainz und lange Jahre Lehrstuhlinhaber in Lausanne, wirft den Genfer Behörden darin „schwere Ermittlungsfehler“ und die „Vernachlässigung der Mordthese“ vor.
Mergen hat den ihm vorliegenden Polizeibericht vom 26.Januar ausgewertet, den die Genfer Justiz unter Verschluß hält. Wesentliche Indizien, so der Kriminologe, seien nicht beachtet worden. Für die Beantwortung der Frage Mord oder Selbstmord entscheidende Tatortspuren habe die Genfer Polizei absichtsvoll oder aus Schludrigkeit nicht gesichert bzw. ihre Zerstörung zugelassen.
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Der Polizeibericht enthält keine Originalfotos vom Tage des Leichenfundes, da laut Polizeiangaben die Kamera nicht funktionierte. Statt dessen enthält der Bericht 168 Fotos, die bei einer Nachstellung des vermuteten Geschehens einige Tage nach dem 11.Oktober geschossen wurden. Der Bericht gibt keine Erklärung für das Verschwinden einer Reihe von Gegenständen aus Barschels Hotelzimmer wie zum Beispiel die Medikamentenschachteln oder die Flasche Beaujolais, die er sich am Abend des 10.Oktober bringen ließ.
Einer der zentralen Kritikpunkte Mergens: der dem Polizeibericht beigefügte Obduktionsbericht gibt weder einen genauen Todeszeitpunkt an noch beantwortet er die Frage, wie die tödliche Dosis Cyclobarbital ohne Spuren in Speiseröhre und Schleimhaut in Barschels Magen gelangen konnte. Die ebenfalls im Magen vorgefundenen Schluckhemmer, die üblicherweise bei Magenspiegelungen verabreicht werden, deuteten auf die Einführung des Cyclobarbitals durch einen Schlauch hin - nachdem Barschel bereits durch andere Medikamente bewußtlos gewesen sei. Mergen verwirft die These der Gerichtsmediziner, wonach keine Spuren äußerer Gewaltanwendung festgestellt wurden und die Druckstellen an Stirn und Hinterkopf Barschels durch Aufschlagen auf den Badewannenrand entstanden seien.
Mergen nennt es einen kriminaltaktisch schweren Fehler, daß mögliche politische Hintergründe für eine Ermordung Barschels trotz zahlreicher Hinweise nicht ausgeleuchtet wurden. Mergen nennt ausdrücklich die „Waffenschmiede Schleswig-Holstein“ sowie „Genf als internationalen Treffpunkt von Waffenhändlern“. Auch den etwaigen Zusammenhängen zur Anwesenheit des geheimnisumwitterten bundesdeutschen Privatdetektivs Werner Maus am Wochenende des 10. und 11.Oktober in Genf sei nicht nachgegangen worden. Mergen schreibt abschließend: „Der sonst so kritische 'Spiegel‘ vertritt die Diagnose 'Selbstmord‘ und lehnt alle anderen möglichen Überlegungen als 'Konstrukte‘ ab, übersieht aber dabei, daß auch die Selbstmorddiagnose nichts anderes als ein Konstrukt sein kann.“
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