: Lateinamerika ist heute ein Kontinent ohne Würde
■ Franz Hinkelammert ist Professor an der Universität von Costa Rica/Er war auf dem Basso-Tribunal als Zeuge geladen
I N T E R V I E W
taz: In deinem neuen Buch über die Außenverschuldung Lateinamerikas bestreitest du, daß ein Nettokapitalexport der Industrieländer nach Lateinamerika jemals stattgefunden hat.
Hinkelammert: Ja, aber vielleicht mit einer Ausnahme: das erste Schiff von Kolumbus war die einzige Investition. Das zweite Schiff ist dann schon aus den Gewinnen finanziert, die das erste Schiff mitgebracht hat. Und dann sind alle anderen Schiffe durch die Gewinne der vorherigen Schiffe finanziert worden. 500 Jahre lang.
Und wie zeigt sich dieser 'Schuldenautomatismus‘ in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten?
Erstmal haben wir in den 50er und 60er Jahren eine insgesamt positive Handelsbilanz, in den 70er Jahren durchschnittlich sechs oder sieben Jahre negativ. Wenn man eine ausgeglichene Handelsbilanz hat, was für Gründe kann es dann geben, Kredite aufzunehmen? Zum Importieren nicht, denn die Importe werden ja mit den Exporten bezahlt. Kredite braucht man für die Gewinntransfers der transnationalen Unternehmen in die Industrieländer. Über die Handelsbilanz können die ja nicht finanziert werden, die ist ja ausgeglichen. Deshalb müssen die Gewinnrückflüsse mit Krediten bezahlt werden. Und dann hast du diesen 'Automatismus‘: Transfers werden durch Kredite, Kredite durch neue Kredite finanziert, die automatisch kapitalisiert werden.
1972 geht der Schuldendienst zum ersten Mal über die Gewinntransfers hinaus ... und heute ist er schon zwanzigmal so hoch.
Welche Folgen hat dieser Prozeß für Lateinamerika?
Die Reaktion Lateinamerikas ist, auf alles zu verzichten... alles. Es ist ja lachhaft, wie sie alles verkaufen, die ganze nationale Industrie. Was verkaufbar ist, wird vom Ausland gekauft. Und das alles wegen der fiktiven Schulden, die nichts anderes sind als einfach unbezahlbare, aufgelaufene Zinsen.
Welche Logik der Gläubigerländer steht hinter dem 'Verschuldungsautomatismus‘?
Es kann nicht das Geld sein, das ist für die Gläubigerländer viel zu wenig. Netto gehen heute aus Lateinamerika ca. 24 Mrd. US-Dollar jährlich hinaus und die verteilen sich auf neun Länder. Ich meine schon, die wollen die Entwicklung zerstören. Wenn man es für einen Gewinn tut, der gar nicht wichtig ist, dann will man sie ruinieren.
Ist der Plan von Fidel Castro, mit dem gemeinsamen Druck aller Schuldnerländer eine Streichung der Schulden durchzusetzen, gescheitert?
Castro wollte nur, daß man mit der Drohung des Moratoriums Verhandlungen erzwingt, aber das hat sich als illusionär erwiesen. Er wollte, daß sich mit diesem Vorschlag andere solidarisieren. Und was haben die anderen gemacht? Sie haben sich alle entsolidarisiert und dafür beim IWF kassiert. Das ist Lateinamerika heute. Ein Kontinent ohne Substanz, ohne Würde. Das ist richtige Prostitution, und die Länder kassieren noch das Beischlafgeld. Es ist ein Kontinent, der seelisch völlig zerstört ist.
Könnten die ostasiatischen Länder heute ein Modell für Lateinamerika darstellen?
Nein. Nur Mexiko und Brasilien, zusammen 200 Mio. Menschen, haben mehr Einwohner als alle diese asiatischen Länder. An wen sollten die Lateinamerikaner verkaufen? Bei diesen ostasiatischen Ländern zittert ja das ganze System schon. Das könnte auch durchaus erklären, warum die Schulden nicht gestrichen werden: Nicht wegen des Geldes, sondern weil Brasilien und Mexiko keine 'Tiger‘ mehr sind, sondern 'Mammute‘, jedes so groß wie Japan.
Du bist nicht nur Ökonom, sondern auch Theologe. Wie ließe sich heute das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis theologisch auslegen?
Das 'Vater-Unser‘ ist eindeutig. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...“ Das sind ganz klar Geld-Schulden! Der Sünden-Begriff ist als Analogie zu Geldschulden entwickelt worden und nicht die Geldschulden als Analogie zum Sündenbegriff. Das reale Abhängigkeitsverhältnis ist ein Schuldnerverhältnis. Dabei ist ganz wichtig, daß es unzahlbare Schulden sind, ruinöse Schuldverhältnisse. Gerechtigkeit ist hier, ruinöse Schulden zu vergeben.
Diese Schulden müssen vergeben werden, damit dir Gott vergibt. Und Gott vergibt dir, indem du diese ruinösen Abhängigkeitsverhältnisse auflöst. Befreiung des anderen, der von mir abhängig ist, ist Bedingung, damit mir Gott vergibt.
Wie ist es zu erklären, daß diese 'traditionelle‘ Auslegung heute in der herrschenden Theologie nicht mehr vertreten ist?
Diese Auslegung verändert sich im 11. Jahrhundert mit Anselm von Canterbury. Er sagt: 'Gerecht ist der, der seine Schulden bezahlt‘. Das Verhältnis vom Menschen zu Gott verändert sich natürlich auch. Jetzt heißt es: 'Gegenüber Gott bist du in der Situation der ruinösen Schuldenabhängigkeit‘, und zwar eine Schuld, die unbezahlbar ist. Gerechtigkeit ist jetzt nicht mehr, Schulden nachzulassen, Gerechtigkeit bedeutet jetzt, die Schulden zu bezahlen. Dadurch wird eine neue bürgerliche Gerechtigkeit entwickelt. Aber der Mensch kann doch gar nicht bezahlen? Dann muß er für die Ewigkeit in der Hölle braten. Der IWF ist 'Gott‘ und die Entwicklungsländer 'der Menschen‘. Sie können nicht zahlen, also ... ab in die Hölle! Es wird bezahlt mit Blut, entweder das eigene Blut, in der Hölle, oder eines 'Stellvertreters‘.
Heute ist es ja sogar so, daß diese Textstellen des 'Vater -Unser‘ verändert werden.
Wenn heute die Deutsche Bibelgesellschaft die Textstelle durch ‘... vergib uns unser Unrecht, wie auch wir denen vergeben, die uns Unrecht tun...‘ verändern, so ist das reiner Zynismus. Im Spanischen hat man diese Textstelle 1969 verändert, doch gibt es einige Regionen in Lateinamerika, die noch das alte 'Vater-Unser‘ beten. Die Bischofskonferenz hat jetzt eine Anordnung erlassen, wonach bis 1992 die neue Übersetzung überall gebetet werden muß. 1992... genau 500 Jahre nach der Eroberung durch Kolumbus, da ist die Eroberung definitiv.
Dann sind endgültig auch die Seelen kolonialisiert!
Enrique Dussel/Robert Große
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