: IN LEICA VERITAS
■ Die Fotografin Gisele Freund im Werkbund-Archiv
Im Zeitalter, wo Bilder anstelle des Gedächtnisses getreten sind, hat die Fotografin Gisele Freund Hochkonjunktur. Anstatt Joyce zu lesen, schauen wir ihre Bilder von Joyce an und glauben, ihn begriffen zu haben. Wirklich im Gedächtnis bleiben sollen hätten nämlich nicht ihre Prominentenporträts, sondern etwa die Bilder vom Aufmarsch rechtsgerichteter Korpsstudenten unter Polizeischutz und dem Hitlergruß ihrer Kommilitonen im Frankfurter Westend.
Ein Jahr vor Hitlers Wahl zum Reichskanzler hält Gisele Freund, damals noch Amateurfotografin, mit der Kamera am 1. Mai 1932 einen Zusammenstoß zwischen linken Gegendemonstranten und der Polizei fest. Gisele Freund war Mitglied im Sozialistischen Studentenbund, der gegen den Nationalsozialismus kämpfte. Man fragt sich, warum diese Bilder heute nicht anstelle der biederen Auftragsfotografien der Frankfurter Rundum-Fotografin Barbara Klemm die Wände der U-Bahn-Station an der Bockenheimer Warte dekorieren. Hier studierte Gisele Freund am Institut für Sozialforschung bei Mannheim, Elias und Adorno. Von dieser Runde existiert übrigens ein verwackelter Schnappschuß im Kaffee Laumer, der ganz aus der Rolle ihrer sonst aufs Zehntel erlauerten Bilder fällt, und den damals noch unbekannten Norbert Elias hat sie gar nicht porträtiert. Dabei haben seine Thesen vom Repräsentationszwang der aufsteigenden bürgerlichen Schichten ihre Doktorarbeit über die Geschichte der Fotografie im Frankreich des 19. Jahrhunderts nicht minder nachhaltig beeinflußt als Benjamins Theorie zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Heute erzählt sie nichts mehr von diesen Erfahrungen. Fast buchstabengetreu repetiert sie bei jeder Gelegenheit die Bildlegenden ihres bei Schirmer/Mosel erschienenen Fotobandes, der viele, wenn auch nicht alle Exponate der Berliner Werkbundausstellung enthält. Nicht nur das Bedürfnis nach Bildern stillt sie, sondern auch das nach Anekdoten. Da ist die Geschichte vom abergläubigen, kamerascheuen James Joyce, der, nachdem die beiden Protagonisten jeder auf seine Weise sich den Kopf angeschlagen hatten, konzedierte, daß Gisele Freund stärker als die Iren sei und sich gar ein zweites Mal ablichten ließ. Und da ist das Rührstück vom väterlichen, verarmten, von Adorno im Pariser Exil mit einer jämmerlichen Rente abgespeisten Benjamin, mit dem sie die „politische Lage diskutierte“ und „das karge Mittagsbrot in dem kleinen Park vor der Bibliotheque Nationale teilte“. Mit penetranter Regelmäßigkeit erfahren wir dann auch, daß sie dem armen Benjamin eine seltene Brentano-Originalausgabe mit vielen phantastischen Kupferstichen schenkte und diese Gabe das einzige Buch aus der Bibliothek ihres Vaters war, das sie hatte bei ihrer Flucht nach Paris vor der SS 1933 retten können. Freund vermochte es, die gesamte geistige Elite Frankreichs abzulichten, sich die künstlerische Avantgarde der dreißiger und vierziger Jahre vor die Linse zu holen und später sogar Präsident Mitterrand anzuweisen, wie er für das offizielle Staatsporträt zu posieren habe und hinterher zu erzählen, daß Monsieur le President drei unmögliche Krawatten zum Fototermin mitbrachte. So hat die Schweizer Kulturzeitschrift 'Der Alltag‘ ein Gespräch mit der „kleinen schwatzhaften Person“, wie Benjamin sie nannte, denn auch in der Klatsch-Nummer 1987 untergebracht. Daß Klatsch, wenn auch ein informeller, gleichwohl mächtiger Diskurs ist, bestätigte sich einmal mehr, als ihre 'LIFE'-Reportage über Evita Peron zu einem diplomatischen Zwischenfall zwischen Buneos Aires und Washington führte. Auf acht 'LIFE'-Seiten zerschwelgte der „Engel der Armen“ inmitten seiner Reichtümer sein offizielles Image, was 'LIFE‘, trotz eines zweimonatigen Verkaufsverbotes in Argentinien, großen publizistischen Erfolg eintrug.
Gisele Freunds Maxime, Menschen umgeben von Dingen, die ihnen lieb sind, möglichst in ihren eigenen vier Wänden abzulichten, stillt jene Neugier aufs Private, die keinen geringen Anteil an der Faszination ihrer Bilder hat. Ihre Bilder sind Klatsch und wo sie es nicht sind, zaubert sie ihn per Bildlegende hinzu. Vor allem aber hat dieses durch und durch journalistische Prinzip Anteil an dem Mißtrauen und der Ambivalenz, die einer Frau entgegenschlägt, die sich schon früh in keine geringere Tradition als die Nadars stellte. „Zu Nadar strömte alles, was in der Kunst, Literatur und Politik Bedeutung hatte, um sich von ihm photographieren zu lassen“, schreibt sie in ihrer Dissertation. Ihr ist es gelungen, mit einer „mittelmäßigen Kunst“, wie Bourdieu die Fotografie begreift, (im Sinne Bourdieus) Exquisites abzulichten und hinterher zu behaupten, das Einmalige ihrer Bilder mache der besondere Augenblick aus, in dem sie den Auslöser bediene.
Da lobe ich mir die Ausstellungsmacher. Mit der naturhölzernen, aufs Parkett abgestimmten Rahmung haben sie es geschafft, den Bildungsikonen von Sartre bis G.B. Shaw die Aura einer durchschnittlichen, inzwischen etwas unzeitgemäßen, Wohnzimmerdekoration zu verleihen, und auf diese höchst anschauliche Weise widerfährt uns hier das Spezifische der Fotografie - ihre technische Reproduzierbarkeit. Und wenn dieses Medium jemals einen demokratisierenden Effekt gehabt haben sollte, dann hic et nunc bei Simone de Beauvoir auf dem Wohnzimmer-Chaiselongue im Ikea-Rahmen.
Simone Lenz
Bilder von Gisele Freund im Werkbund-Archiv im Martin -Gropius-Bau bis 16.10. täglich außer montags, 10-22 Uhr.
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