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DDR: Midlife-crisis oder Wechseljahre?

Der erste deutsche Arbeiter- und Bauernstaat geht ins 40.Lebensjahr / Gorbatschow setzt Honecker in Zugzwang / Apathie wächst schneller als Unmut / Unfaßbar für die DDR-Altherrenriege: ihre Jugend gerät außer Rand und Band / Die Öffnung im Kulturbetrieb könnte Vorbildfunktion haben - sofern sie ernst gemeint ist  ■  Von Holger Eckermann

„Welches Land hat die größte Küche?“ lautete eine Scherzfrage in Ost-Berlin. Die Antwort: die DDR. Dort gibt es 17 Millionen Gerüchteköche. Wild wuchern Spekulationen, wer wann und wieso wessen Nachfolger werden könnte und ob Glasnost in der DDR je eine wahre Chance hat. Selbst der ehemalige Geheimdienstchef und Frühpensionär Markus „Mischa“ Wolf wird mittlerweile wieder für höhere Ämter mit ins Spiel gebracht. Er soll ein Perestroika-Freund sein. Doch bislang sitzen Honnie und seine Riege alle Gegenwinde aus.

Hat der „Arbeitsbesuch“ Erich Honneckers letzte Woche am Vorabend der Politbüro-Umgestaltung daran etwas geändert? „Ein großer Tag, der weit in unsere Zukunft weist“, resümierte die auflagenstärkste Tageszeitung 'Junge Welt‘ die Begegnung. Und Montag dieser Woche zitierte 'Neues Deutschland‘ die 'Tass'-Bilanz des Besuchs: „Der wohltuende Einfluß der Umgestaltung erfaßt nicht nur alle Aspekte des Lebens der Sowjetunion“, beginnt vielsagend der Text. Und der 'Tass'-Kommentator stellt der SED eine Falle: „Wie wird jetzt die Westpropaganda Behauptungen untermauern“ von „Unstimmigkeiten zwischen beiden Ländern“ und der „Nichtübernahme der sowjetischen Umgestaltung durch die DDR“? Das geht nur, wenn die SED weiter Anlässe für die „Behauptungen“ liefert - beispielsweise die andauernde Zensur von Kirchenblättern. So könnte die Antwort lauten. Sind also Umgestaltungsentscheidungen gefallen? Denkbar. Aber auch personell? Kurzfristig wohl kaum, wenn auch den Tschechen nach Polen in diesen Tagen ein Revirement ins Haus stehen soll - in ZK und Politbüro. Noch setzt Honnecker unbeirrt seinen Reputationskurs fort. Seit Montag weilt er gar im spanischen Königshause.

Denkanstöße hat ihm Gorbatschow dennoch verpaßt. „Das Volk zum richtigen Hausherren machen“, hatte der Kreml-Führer dem Gast aus der DDR das Anliegen von Perestroika übersetzt. „Wenn man auf alte Art und Weise arbeitet“, toastete Gorbatschow, „fest auf Befehle, direktive Anweisungen und Papierkram hofft, so ist schwer auf Erfolge zu rechnen.“ Die Entwicklung der Zusammenarbeit zwischen großem und kleinem Bruder würde auch durch „ungenügendes Stimulieren und verkrustete Verwaltungsmechanismen gebremst“.

Goldene Bilanzen

nur in Seoul

Hoppla, mag da Günter Mittag geschluckt haben, der zentralistisch orientierte Wirtschaftsboß der SED. Seine Ablösung sehen die Gerüchteköche ständig voraus, denn trotz der Entwicklung eines Megachips kraucht die DDR-Wirtschaft devisenarm am Boden. Alle Wirtschaftsbilanzen sind zwar stets positiv, wenn sie im 'Neuen Deutschland‘ stehen, realistisch sei aber gewiß nur die Medaillenbilanz von Seoul, witzeln Wirtschaftsfachleute in Ost-Berlin.

Bis vor Gericht müssen etwa Betriebe ziehen, um sich Prioritäten auf Wartelisten für Neuinvestitionen zu erkämpfen. Lähmend sei nicht nur das leidige Ersatzteilproblem, katastrophal sei die Arbeitsmotivation. „Mit den Absagen an Perestroika geht die Utopie vor Augen verloren“, urteilt ein Ökonom im Gespräch. 40 Jahre DDR dagegen seien kein Ansporn, denn wer identifiziert sich schon mit einem Staat, „der immer tiefer in eine unnötige Midlife-crisis versinkt“.

Maracuja-Brause, die es als neue Errungenschaft der DDR -Getränkeindustrie gibt, tröstet da wenige. Doch die „revolutionäre Kampfkraft der Arbeiterklasse“ wird vor allem im Westen grob unterschätzt. Lamentiert wird zwar allerorten in der DDR über Bevormundung, Versorgungsmängel, Schlangestehen, Selbstzufriedenheit und Weltfremdheit der Funktionäre - nennenswerten Widerstand gibt es aber nicht. Die Breitenwirkung der Kirchen wird überbewertet, wenn auch deren Eintreten für Offenheit und Rechtssicherheit allgemein Bewunderung findet. Der Normalbürger zieht biedermännisch das Abwarten vor. „Was soll sich schon ändern?“ bekommt man zu hören. Ehrlichen Wandel trauen nur wenige ihren Funktionären zu. Nicht der Unmut wächst, sondern die Apathie. Nur die politischen Witze sind garstiger geworden. Makaberstes Beispiel: „Honnecker und Mittag fallen vom Hochhaus. Wer kommt zuerst unten an? Ganz egal, Hauptsache beide.“

Im Alkoholismus

den Westen überholt

Die Funktionäre setzen auf den Identifikationsprozeß mit den Olympiahelden, die beweisen, ja, wir sind doch wer. Nationalstolz aufs Erreichte ist gefragt auf dem Weg zum 40.Jahrestag der DDR 1989. Westreisen aber lassen die Maßstäbe dessen wachsen, was eigentlich möglich ist. Und DDR -Urlauber in Ungarn bringen die dortigen deutschsprachigen Zeitungen mit, die vor Glasnost und Demokratiediskussion nur so strotzen. So wächst Frust und auch der Suff. Mittlerweile ist der Spirituosenverbrauch in der DDR zweieinhalbmal größer als bei uns, 10,7 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr. Die „Alkis“ fallen zunehmend auf, und besonders Jugendliche zeigen sich anfällig für die Droge Schnaps. Bei großen Konzerten herrscht striktes Alkoholverbot. Um „anonyme Alkoholiker“ kümmert sich zunehmend die Kirche. Zurückgezogen gehen vielerorten Gruftis ihrer Wege, schwarz der Mode wegen, aber auch, um den „großen Spießbürgern“ der Republik „eine eigene Meinung“ zu demonstrieren. Wie jüngst ein Diskotheker im DDR-Kulturblatt 'Sonntag‘ feststellte.

Beängstigend ist eine andere Jugendbewegung geworden. Der Skinhead oder der Bürstenhaarschnitt ist landesweit in Mode gekommen, das entsprechende Outfit ebenso. Gerichtsprozesse haben Ausfälle von Skinhead-Gruppen nicht eindämmen können, weil der Staat dem Phänomen noch ratlos gegenübersteht. Ein Lehrer aus dem Ost-Berliner Neubauviertel Marzahn: „Besonders in Neubaugebieten nimmt die Zahl dieser Skinheads auffallend zu, häufig Problemkinder der vielen zerrütteten Ehen. Die prügeln bedenkenlos Schwächere und ziehen am Wochenende nach den Fußballspielen bis zum Alexanderplatz, rufen: 'Wir wollen Freiheit‘ und 'Schwule raus‘, agieren also, ohne politisch groß nachzudenken. In Schulen gibt es Problemklassen, da müßte die Volkspolizei neben dem Lehrer stehen, Kommunikation ist da nicht drin. Der Stoff wird stur an die Tafel geschrieben, so wird dann der Lehrplan erfüllt.“

Ideologische Standpauken helfen da wenig, auch autoritäres Gehabe nicht. Mode, Musik nd Diskussionen sind Rezept der FDJ geworden, diese Jugend wieder für das System zu faszinieren. Kontrovers wird in der 'Jungen Welt‘ über Grundwerte diskutiert. Freiheit und Eigentum etwa. Verblüffendste Zuschrift in dieser Serie: „Wir haben die Idee, einen 'Klub der Kritik‘ in unserer Schule zu gründen. An einer Wäscheleine, quer durch den Schulflur gespannt, kann jeder seinen Zettel mit Vorschlägen, Ideen, Kritik und Lob hängen - anonym oder mit Namen.“ Das Rezept riecht nach Gorbatschow, manche Genossen rüttelt das wach, sie rücken zusammen und kommentieren altväterlich: „Du mußt Antworten finden, wo andere auf ihre Fragen stolz sind; Vorschläge machen, wo andere nur meckern; Lösungen suchen, wo andere nur auf Probleme verweisen. Zuviel? Für den einzelnen (Genossen) vielleicht. Aber wir sind ja viele. Dazu sind wir doch eine Partei: daß nicht nur einer alleine die Fahne hochhält, wenn der Wind mal etwas heftiger weht.“ So Peter Neumann, der stellvertretende Chefredakteur der 'Jungen Welt‘.

Wohin treibt der Wind

aus dem Osten

Der Ostwind macht vielen Genossen erheblich zu schaffen. „Russischer Weltschmerz“ werde da in Moskau laut, eine „Wehleidigkeit, die wieder vergeht“, redeten sich tatsächlich Funktionäre auf Versammlungen heraus, und genüßlich hat das 'Neue Deutschland‘ in den letzten Wochen jene 'Tass'-Texte zitiert, in denen die Konsequenzen von Laiser-faire-Politik betont werden, etwa, daß sich die Miliz über zunehmende Störung der öffentlichen Ordnung beschwert.

Solche Warnungen kamen SED-Hardlinern gerade recht. Wo die Reise aber wirklich hingeht, darüber müssen selbst Funktionäre spekulieren. Ein vorgezogener Parteitag wird vor der 40-Jahr-Feier im nächsten Jahr nicht für möglich gehalten. Über die Nachfolge des verstorbenen Landwirtschaftsministers Felfe (ein Wunschkandidat westlicher Politiker für die Honecker-Nachfolge) muß das ZK entscheiden, regulär tritt es erst im Dezember zusammen. Solange gärt die Gerüchteküche. Und ungewollt tritt eine zusätzliche Lähmungserscheinung ein. Entscheidungsscheu macht sich breit. Funktionäre verschieben Genehmigungen oder Verbote, die ihnen bald nachgetragen werden könnten. Das verschafft Reformern Raum, vor allem im Kulturbereich, weil Intellektuelle sich am ehesten beschweren.

„Freistil“ in den Künsten?

Auf Theaterbühnen knistert es vor Spannung. Heiner Müller („Kunst muß Neues wagen“) wird in den Himmel gelobt, doch die Bühnen sind isoliert, ihnen fehlt Massenwirkung, die vermieden werden soll. Dem Westfernsehen wird verwehrt, Volker Brauns Übergangsgesellschaft zu zeigen. Sehr offene Töne im DDR-Rundfunk fallen nur wenigen auf. In Grenzen hält sich auch der Leserkreis von Fachzeitschriften, in denen Töne wie diese stehen: „Die Motivlabyrinthe, aus denen konträr Skinheads und Punks sich herleiten, die unübersehbaren Brüche zwischen jungem Idealismus und frühem Rückzug in Skeptizismus, Verweigerung, Entpolitisierung all das und die darin verstrickten Leute finde ich nicht in unseren Filmen.“ (Klaus Wischnewski in 'Film und Fernsehen‘, Nummer 9/88). Erstaunlicherweise geben sich Blätter, die Chefideologe Kurt Hager zu verantworten hat, offener als alle Medien, denen Joachim Herrmann im ZK voransteht. Er gilt als oberster Pressezensor. Selbst Bruce Springsteens Satz beim Open-Air-Konzert in Berlin-Weißensee vor 160.000 Besuchern, daß er hier spiele in der Hoffnung, daß eines Tages „alle Barrieren“ fallen, wurde auf Herrmanns direkte Weisung aus den zeitversetzten Livesendungen von TV und Rundfunk geschnitten.

Daß Kurt Hager mit sich reden läßt, hat er unlängst der Akademie der Künste bewiesen. Veröffentlichungen in der vorletzten Ausgabe von 'Sinn und Form‘ hatten ihn in Rage versetzt: nie veröffentlichte Becher-Texte und andere Beiträge, die die Schattenseiten des Stalinismus erhellen. Hager ließ einen Staatssekretär bei 'Sinn und Form‘ intervenieren, der Fortbestand des Heftes (das ohnehin kaum mehr öffentlich zu kaufen ist) wurde „existentiell bedroht“, so berichten Eingeweihte. Die Akademie bat Kurt Hager zum Gespräch, der mit Verweis auf das Echo der Becher-Texte in den Westmedien solche Nestbeschmutzung zuwider fand. Unter Führung von Stephan Hermlin referierten Mitglieder der Akademie über die Notwendigkeit von Offenheit und triumphierten; das nächste Heft durfte erscheinen. Und zum ersten Mal wird Glasnost in der DDR definiert. In einem Interview spricht Rudolf Schottländer, ein im Januar verstorbener Philosoph und Literaturwissenschaftler der Ost -Berliner Humboldt-Universität, quasi ein Nachwort zum Streit: „Schauen Sie, wenn durch Gorbatschow das russische Wort Glasnost weltweit gebräuchlich geworden ist, dann ist das schon ein Beleg für seine überragende rednerische Qualität, diesem Begriff einen solchen Nachdruck zu verschaffen. Im einfachen russischen Wort liegt beides: Freimut und Öffentlichkeit, freie öffentliche Bekundung. Das hat in den 50er Jahren in der Sowjetunion im argen gelegen, bei uns ist da auch noch Nachholbedarf.“

Hat die Kultur nun Narrenfreiheit, oder spielt sie eine Vorreiterrolle für Öffnungsprozesse? „Freistil“ ist zwar mittlerweile in der Malerei als Begriff akzeptiert, nicht aber bei allen Kulturfunktionären. In Jena ließ im Juli der Stadtrat für Kultur eine Plastik von Eva Anderson und ein Bild von Detlev Schweiger zerstören, die keinesfalls Amateurkünstler sind. Die Kunstwerke waren in einer privaten Hinterhofgalerie ausgestellt, wo seit 1986 Hofvernissagen stattfinden.

Den bildenden Künstlern steht im November ihr Verbandskongreß bevor. Mit einem neuen Statutenentwurf des Verbandes bemühen sich alte Funktionäre, die Öffnung im Zaum zu halten. Erstmals soll darin festgeschrieben werden, daß der Verband die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei anerkennt. Kunst bleibe „parteilich und volksverbunden“, der Verband prägt eine „sozialistische Nationalkultur“, und beratende Organe werden vom Vorstand „berufen“. Die Kunst bleibt in ordnender Hand.

Glasnost, Offenheit, ist keine Frage von Pin-up-Fotos, die jetzt immer häufiger an DDR-Zeitungskiosken aushängen, so scherzen DDR-Bürger mitunter. Daß die „Einstürzenden Neubauten“ ein Hörspiel beim DDR-Rundfunk vertonen durften, daß Lutz Bertram, ein DDR-Journalist, als Buchautor Peter Maffay porträtieren darf oder Stefan Heym in diesen Wochen der Veröffentlichung seines Romans Ahasver in der DDR entgegensieht - mit Glasnost für jedermann hat das noch wenig zu tun. Was für Heiner Müller gilt, müsse auch für Lieschen Müller gelten, schrieben Künstler an ihren Verband. Rechtssicherheit gehört dazu.

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