: Innenleben eines Tones
■ Michael Vetter sang „Obertöne“ in der brechend vollen Schauburg Die Vielfalt in der Einfalt oder: Wie ein konstanter Ton die Musik machen kann
„Avantgarde“ ist ein zwielichtiges Wort. Es soll attraktiv machen und gleichzeitig suggerieren, das Angepriesene sei schon „in“. Die Schauburg war am Dienstag abend brechend voll, als der „Oberton„-Sänger Michael Vetter mit Tambura und Licht-Projektionen angekündigt war. Und nur eine Handvoll gingen nach einer Viertelstunde; die meisten wußten, was sie erwartete: Vor allem Gleichform. Nicht die melodisch säuselnden Klänge mutet Vetter seinem Publikum zu, die unter „Meditationsmusik“ gewöhnlich erwartet werden, sondern minutenlang und konstant - einen Ton. Die Oberton -Modulationen „leuchten“ die möglichen Klangfarben dieses Tones aus, kein Rhythmus lenkt vom Ton ab, anfangs auch kein Tonwechsel, keine Harmonie-Entwicklung, wie sie klassische Lehren vorschreiben. Der Sänger sitzt vorn im Dunkeln, macht keine Show, er ist schon von der siebten Reihe aus nicht mehr zu sehen. Irgendwie muß jemand ihm gesagt haben, daß das doch zu wenig ist, und so erscheinen auf der Leinwand Dias von Rauch
Zeichen, ineinander und übereinander verschlungenen nach vorn gestrahlt - wer da seine figürlichen Bilder hineinprojizieren will, wer Personen sehen oder symbolische Formen sehen will, kann das tun. Wer sich in den Ton versenken will, macht einfach die Augen zu.
Der Ton beginnt ein Eigenleben zu führen, teilt sich in zwei und schlingt sich umeinander und ineinander wie die Rauchzeichen auf den Dias; kaum noch als stimm-gemachte sind die Töne eindeutig zu identifizieren. Die Tambura - eine Art viersaitiger „Sitar“ - begleitet leicht untergründig die Singstimmen, und ihre Töne haben auch dieses Klang -Innenleben, schwingen auf und verlieren sich.
Vetter bietet seine Klänge dem Publikum in beinahe pädagogischer Abfolge: Er beginnt ganz reduziert, alle Erwartungen gewöhnlicher „Konzerte“ zerstörend. Und dann baut er langsam wieder Klangkombinationen auf, die den Hörgewohnheiten mehr entsprechen: Zunächst tritt die begleitende Tambura hinzu, gibt dem Spiel eine fernöstliche Kom
ponente. Und irgendwann nach einer Stunde taucht ein ganz eigener zweiter Ton auf, wie eine Flöte umspielt diese zweite Stimme den Grundton. Es sind ganz erstaunliche Fähigkeiten der menschlichen Stimme, die Vetter hier vorführt. Die Melodieführung erinnert an gregorianische Gesänge, leise, moderne, rhythmische Akzente treten hinzu und machen den Gesamt-Klang so vielfältig, daß ein eigener „Stil“ entsteht, dessen einzelne Elemente nicht mehr herausdestillierbar sind.„Ich dachte, da sind drei zu Gange“, sagt deshalb auch jemand in der Pause - einer der Zuhörer, für den der, der vorn einsam und aufrecht auf seiner Decke sitzt, nicht erkennbar ist.
Eine Minute Schweigen deutet das Ende des Konzertes an. Der Applaus ist verhalten, das derbe Klatschen ist der meditativen Musik so angemessen wie eine Klobürste fürs Säubern des Inneren einer Uhr. Zwei leichte Verbeugungen, Michael Vetter winkt kurz und deutet damit an, daß er sich nicht in der gewöhnlichen Weise feiern lassen will.
Klaus Wolschner
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