Chaplins Sohn

■ Agnes Vardas „Kung Fu Master“, zu deutsch „Die Zeit mit Julien“

Der Junge ist 14, die Frau 40. Julien und Marie-Jane - eine verbotene Liebe. Daß Die Zeit mit Julien dennoch kein Film über Pädophilie geworden ist, liegt an der Besetzung. Der Junge, Mathieu, ist der Sohn der Regisseurin, die Frau ist Jane Birkin, ihre Töchter spielen mit und ihre Eltern und ihr Pariser Wohnhaus und die Ferieninsel irgendwo vor der englischen Küste. Die Idee stammt von Jane Birkin selbst - ein Film also von den Müttern über ihre Kinder, Väter kommen nicht vor. Ich glaube nicht, daß es so etwas im Kino schon mal gegeben hat.

Julien liebt Videospiele, Kung Fu Master ist sein Favorit. Ein Computerkaratemännchen muß in einer Pagode alle möglichen Gegner beseitigen, um im obersten Stockwerk Sylvia zu befreien. Man muß sehr schnell sein, Julien ist noch nicht schnell genug. Im Vorspann läuft er selbst wie ein Computerkaratemännchen auf dem Bürgersteig hin und her und schlägt imaginäre Gegner. Ein kleiner Junge mit Strubbelkopf und mechanischen Bewegungen, aber doch nicht völlig mechanisch, eher so wie im Stummfilm, als jede Bewegung noch ein bißchen ruckte. Julien als Chaplins Sohn - in diesen paar Sekunden ist er unwiderstehlich. Kein Wunder, daß Jane Birkin sich in ihn verliebt.

Ihre erste Begegnung ist zugleich ihre intimste. Auf der Party der Tochter Lucie (Charlotte Gainsbourg) - die Kids rauchen und trinken Whisky, reden über Aids und füllen Kondome mit Wasser - steckt sie ihm den Finger in den Mund, damit er kotzen kann.

Julien ist kein Kind mehr und noch kein Mann. Er hat feine Mädchenhände, aber steckt sie lässig-männlich in die Hosentaschen. Er fachsimpelt über Motorräder und steht am nächsten Morgen mit Croissants und Blumen vor ihrer Haustür. Er hat einen weichen roten Mund und melancholische Augen. Aber sie leuchten nur, wenn er Kung Fu Master spielt. Ausgerechnet der eigenen Mutter hätte ich das kaum zugetraut, aber Agnes Varda beobachtet und filmt dieses Stückchen Pubertät, die Zeit vor dem Bartwuchs, ganz genau. Genauer als Jane Birkin, der sie einen roten Pullover anzieht (was ihr überhaupt nicht steht) und die sie als Kommentar aus dem Off sprechen läßt. Abgesehen davon, daß das Kindische der Stimme Birkins unerträglich wird, wenn sie nicht singt, sondern spricht (die Synchronstimme ist nicht besser), verdoppelt sie bloß. Julien ruft an, sie geht ans Telefon, spricht, ist verwirrt: „Dann kam der Anruf, der mich völlig durcheinander brachte.“

Von Jane Birkin scheint Agnes Varda von vornherein fasziniert, fasziniert von einem Idol, einem Phänomen, einer Frau. Bei Mathieu-Julien scheint sie die Vertrautheit mit dem eigenen Kind zunächst zu befremden. Sie macht den Sohn zum Schauspieler und die Kamera nähert sich an. Am Anfang weiß sie lediglich, daß Kindheit und Jugend im Zeitalter von Aids und Videospielen anders sein müssen als ihre eigene vor 30, 40 Jahren. Sie fragt sich, wo die Romantik geblieben ist, unterlegt die Vorspann-Bilder von Kung Fu Master mit Meeresrauschen und Löwengekreisch und entdeckt die Zärtlichkeit der Finger auf den Computertasten.

Marie-Jane erzählt Lucie von damals, von ihrer ersten Liebe, weil sie will, daß Lucie von sich erzählt. Jane Birkin sucht in Charlotte immer nur das Eigene; Julien dagegen ist ihr ein Unbekannter: Sie weiß nicht, wie es ist, einen Sohn zu haben. Vielleicht bleibt Charlotte deshalb so konturenlos; dabei hat auch sie die Melancholie im Blick, und der Schmollmund ist so trotzig und sinnlich wie der der Mutter.

Die Zeit mit Julien hat zahllose Schlüsse und mindestens vier zuviel. Marie-Jane fährt mit den Kindern nach London zu ihren etwas verschrobenen Eltern. Lucie entdeckt das Paar am Ostermontag im Garten: der erste Schluß.

Marie-Jane fährt mit Julien auf eine einsame Insel, wieder rauscht das Meer und die Möwen kreischen: der zweite Schluß.

Sie fahren zurück nach Paris, die Geschichte kommt ans Licht. Skandal, sie dürfen sich nicht mehr sehen, das erzählt die Stimme aus dem Off: der dritte Schluß.

Julien befreit Sylvia und will Marie-Jane benachrichtigen; aber die Nachricht kommt nie an: der vierte Schluß.

Lucie versöhnt sich mit ihrer Mutter (sie liest jetzt Dostojewski): der fünfte Schluß.

Julien auf dem Schulhof. Pausengespräch unter Jungs. Hattest du schon mal eine? Ja, so 'ne 40jährige, Hausfrau, zwei Töchter, aber was soll man machen? „Wenn man ran muß, muß man ran.“

90 Minuten sind Vorschrift im Kino. Die Zeit mit Julien hätte ich mir, um die Hälfte gekürzt, lieber zweimal angesehen.

chip

Agnes Varda: Die Zeit mit Julien, mit Jane Birkin, Mathieu Demy, Charlotte Gainsbourg, Lou Doillon, Frankreich 1987, 80 Min. (Vardas‘ Dokumentarfilm über Jane B. startet in wenigen Wochen. Die Zeit mit Julien ist eine ausgebaute Spielfilmepisode aus dem Dokumentarfilm, der aus lauter kleinen realen und fiktiven Episoden besteht.)