piwik no script img

Der arme Vetter von Barlach

■ Kein dumpfer norddeutscher Seelenjammer / Von Fräulein Isenbarn, die nicht Frau Siebenmark werden will und von dem armen Vetter, der ein bißchen ein Windhund aber sonst aus guten Hause ist

Ernst Barlach als Dramatiker: Gelesen hatte ich zwar nichts von ihm, dafür ein umso festeres Bild im Kopf. Dumpfer norddeutscher Seelenjammer und wabernde Mystik. Bis ich vor einigen Jahren den „Blauen Boll“ im Thalia sah. Da gibt es zwar reichlich spintige Gestalten und happige Identitätskrisen, aber auch Figuren von grotesker Komik, denen zwar nicht ihr festgefügtes Leben, aber doch ihre Sprache seltsam entgleist ist. „Hier sitze ich und hier saufe ich solange, bis die Sache spruchreif ist und spruchreif ist sie spätestens bald! Und dann habe ich die Eigenheit, je mehr ich trinke, desto eher werde ich mit den Flaschen fertig und immer flotter geht die Karriere meiner Gedanken.“

Und nun „Der arme Vetter“ am Schauspielhaus. Das Stück beginnt bei Krämer heiter, ja ausgelassen. Über die Bühne spannt sich im halbrunden Bogen eine sanft abfallende Düne aus grau blauem Filz. Gleich zu Anfang läßt sich das Fräulein Isenbart (Birgit Walter) die Düne hinunterpurzeln. Amüsiert beobachtet sie ihr Verlobter, Herr Sieben

mark (Martin Reinke). Er ist wie sein Name: ein Geschäftsmann, der seine sieben Sinne und Märker beisammenhält und sich freut, daß dies hübsche Fräulein bald sein eigen sein wird. Wie aber ist Fräulein Isenbarn? „Bist du nie müde, du selbst zu sein?“ fragt sie ihn und er versteht nur, daß sie Frau Siebenmark werden möchte. Daß sie ständig „Ach Gott!“ ruft und ihr ganz „über...menschlich, gewissermaßen“ und seltsam österlich zumute ist, das ist halt eben Weiberlaune. Und vielleicht hätte sie am Ende dieses Ostersonntags selbst an Kaprizen gedacht, wenn dem Brautpaar, neben all den anderen Osterspaziergängern, nicht auch ein seltsamer Heiliger über den Weg gelaufen wäre: der arme Vetter Hans Iver (Benno Ifland), „ein bißchen Windhund

-aber sonst aus gutem Hause“, den der Lebensekel gepackt hat und der nun dies niedrige Leben hinter sich lassen möchte, weil er sich dafür für zu gut hält. Dieser sich eitel mit metaphysischer Schuld behängende Gottsuchertyp der mich, jedenfalls in dem schon jenseitig heiteren Zustand, in dem

ihn Benno Ifland zeigt, nicht im geringsten berührt - bringt nun das Brautpaar, das doch im Selbstverständnis des Herrn Siebenmark auf solidem Grund stand, ins Rutschen. Immer stärker wird sich das Fräulein Isenbarn bewußt, daß sie nicht Frau Siebenmark werden will, wenn sie müde ist, sie selbst zu sein. Sie beginnt sich dagegen zu wehren, sein eigen und von ihm vereinnahmt zu werden. Birgit Walter zeigt mit spärlichen Gesten, wie sie sich immer mehr in sich zurückzieht, sich zugleich zu Iver hingezogen fühlt, von ihm erfahren möchte, was ihr so diffuses Gefühl „selbst ein bißchen Ostern“ zu sein, bedeuten möge. Sie zeigt, daß für das Fräulein Isenbarn der Rückzug von Siebenmark nur als Flucht ins jenseitige möglich ist. Und je mehr sie abhebt, umso eindrucksvoller zeigt Martin Reinke, wie der Boden unter Siebenmark zu wanken beginnt. Er hat seine sieben Sinne längst nicht mehr in der Hand. Im

braven, selbstgewissen Bürger ist etwas erwacht, was ihn in Angst und Schrecken versetzt und ihn doch nicht mehr losläßt. Ihn treibt nicht die Sehnsucht nach Gott um, ihn hat der Sexus gepackt. Verzweifelt beschwört er Fräulein Isenbarn, sie möge doch auch „seine Not“ bedenken. „Ich bin eben nicht mehr Herr in unserem Bereich ... Du hast ihn, ohne es zu ahnen, aus dem Loch gelassen. - Deine Schuld! Und nun ist der wilde Mann in Freiheit.“

Herr Siebenmark und Fräulein Isenbarn treffen auf ihrem Spaziergang durch die Dünen aber nicht nur auf Hans Iver: und die anderen Osterspaziergänger haben ganz im Gegenteil zu ihnen keine Probleme mit dem „wilden Mann“. Da ist zum Beispiel die Frau Keferstein (Therese Dürrenberger), die jedem Herrn, der ihr übern Weg läuft, klar und unmißverständlich sagt, wonach sie sich sehnt. Und der Schiffer Bolz (Arno Wüstenhöfer) versteht sie gut. „Wenn der Herrgott so 'ne

schöne Luft Luft macht, warum soll man sich da nicht 'n büschen utlüften, auslüften, aufknöpfen - wollen mal gleich hier reingehen ... mein Name ist Bolz, kein Bolz hat sich je ein Wort zuviel zu Schulden kommen lassen.“ Und da ist die ganze feuchtfröhliche Gesellschaft im Wirtshaus, mittenmang die „Frau Venus“ (Alexander Grill), die sich die Zeit, bis der Dampfer zur Rückfahrt kommt, mit derben Sprüchen vertreibt und so recht an das norddeutsche Volkslied „Zu Pingsten, ach wie schoin ...“ erinnert.

Und gerade im Kontrast dieser zwei Gesellschaften, die in Barlachs Stück aufeinanderprallen, zeigt sich die Qualität von Günther Krämers Regie und dem Spiel seines Ensembles. Während den einen die Welt zerfällt, wissen sich die anderen vor Lachen nicht zu fassen. Und das macht weder die Tragödie der einen geringer, noch die Komik der anderen kleiner.

Christine Spiess

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen