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Ein Besuch im italienischen Pavillon

Aufwärts geht es im italienischen Buchhandel. Nach Jahren voller Pleiten bei Verlagen und Buchhandlungen blicken die italienischen Kollegen seit drei Jahren wieder lieber in ihre (Rechnungs)bücher. 1987 erschienen in Italien 27.000 Bücher mit einer Gesamtauflage von mehr als 160 Millionen Exemplaren. Davon 15.000 Neuerscheinungen. Umberto Ecos neuer Roman, Das Pendel des Foucault, von dem eine Erstauflage von 300.000 Exemplaren in die Buchhandlungen gepumpt worden war, geht auch wieder weg wie nichts zuvor: 25.000 verkaufte Exemplare nach zwei Tagen.

Wie sehr Italien immer auch noch das alte Italien ist, sieht man freilich daran, daß von einer umfangreichen Sammlung italienischer Mariendichtung des 20.Jahrhunderts die Erstauflage, über deren Höhe freilich nichts bekannt wurde, auch schon nach fünf Monaten vergriffen war. Es sind Texte, die aus den Erbauungsschriften des 19.Jahrhunderts stammen könnten. Wie geschaffen für Lehrer und Priester, die den Kommunionsunterricht vorbereiten, und natürlich für Enthusiasten des „Ungleichzeitigen“.

Schon 1985 ist beim Verlag Pratiche in Parma ein Band erschienen, der mir aber erst diesmal auffiel: Psichoanalisi Arte e Letteratura 1900-1983. 6.925 Titel führt diese Bibliographie auf. Geordnet alphabetisch nach Autoren schließt ein Sachregister auch dem die Schätze der Bestände auf, der nicht schon weiß, was er sucht. Ich jedenfalls fand dort einen Aufsatz angezeigt, dessen Titel alle meine Vorurteile auf den Plan rief: Les mathematiques - defense ou sublimation? 515 Seiten für 40.000 Lire.

Bei Il Mulino ein umfangreicher Band (426 Seiten, 40.000 Lire) zur Wissenschaftsgeschichte Deutschlands. Il laboratorio borghese. Der Autor, Pierangelo Schiera, unterrichtet Geschichte der politischen Theorie an der Universität von Trento. Es ist der Versuch einer Geschichte der Wissenschaft in Deutschland vom Vormärz bis zum wilhelminischen Imperialismus. Im Zentrum des Interesses von Schiera stehen Sozialwissenschaften und -Jurisprudenz. Schiera spricht von der frühen vormärzlichen Wissenschaft als einem „fattore costituzionale“, ein erhellendes Wortspiel. Beim kleinen genuesischen Verlag Costa&Nolan fiel mir Enrico Fenzi, Armi e bagagli - Un diario dalle Brigate Rosse auf. Der Autor, Dozent für italienische Literatur in Genua, kam zweimal ins Gefängnis wegen Zugehörigkeit zu den Roten Brigaden. Seit 1982 hat er sich losgesagt. In seinem Buch versucht er, so der Klappentext, die Gefühle, die ihn und seine Freunde zu ihren Handlungen bewegten, deutlich und verständlich zu machen. Eine Innenansicht aus der italienischen Partei der Ritter vom bewaffneten Kampf. 283 Seiten, 18.000 Lire.

Begeistert bin ich von dem Prachtband, den Bernardina Sani, eine italienische Kunsthistorikerin, Rosalba Carriera (1675 -1757) gewidmet hat. Es ist die erste umfassende Werkmonographie, in der versucht wurde, alle Arbeiten der bedeutenden Porträtistin zu erfassen und abzubilden. 335 Schwarzweiß-Abbildungen und neun sehr gute Farbtafeln, dazu 340 Seiten Text. Der ist vor allem ein ausführlicher Kommentar zu jedem der verzeichneten Bilder. Für 100.000 Lire bei Umberto Allemandi in Turin.

Giuliana Tedeschi, geboren 1914 in Mailand, verbrachte die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs in Auschwitz und Birkenau. Die italienischen Faschisten hatten sie, ihren Mann und ihre Schwiegermutter bei den Nazis angezeigt. Die brachten die jüdische Familie ins Lager. Ihre Kinder hatte Giuliana Tedeschi bei einer Hausangestellten verstecken können. Jetzt hat ein kleiner Verlag in Florenz ihre Lagererinnerungen - Giuliana Tedeschi, C'e un punto della terra... , Giuntina, 167 Seiten, 16.000 Lire herausgebracht. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber beim Blättern fallen Zeilen auf wie diese: „Ach, heute arbeiten und essen, morgen Krematorium“, oder der Terminus „Schuhkommando“. Deutsch - für Hunderttausende ist das die Sprache der Militärs, die Sprache der Lager. Wieviel davon ist eingegangen in die Sprache der Verschleppten und Hingemordeten?

Arno Widmann

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