: Tote auf den Straßen von Algier
■ Bei den Unruhen in der algerischen Hauptstadt mindestens vier Tote / Ausgangssperre und Belagerungszustand gegen revoltierende Jugendliche / Militärs bestätigen: mehrere Tote / In einer einzigen Klinik 30 Schwerverletzte / Erstes Ziel der Revolte: die Supermärkte
Algier (taz/afp) - Ruhe herrscht in Algier - aber an den wichtigen Straßenkreuzungen der Stadt sind Soldaten in gepanzerten Fahrzeugen postiert, in den Gassen hängen noch immer Tränengasschwaden, und über den Dächern von El-Bair und Bab-el-Oued kreisen die Hubschrauber. Nach der Verhängung des Belagerungszustands am Donnerstag hatte das Militär den Befehl bekommen, auf jeden „Unruhestifter“ zu schießen. Nach inoffiziellen Angaben sind am Donnerstag aber „mindestens vier“ Demonstranten erschossen worden. Allein in einer Klinik Algiers wurden 30 schwerverletzte Personen behandelt. Das Militärkommando bestätigte am Freitag nur, daß es „auf seiten der Sicherheitskräfte wie auch der Demonstranten“ zu Todesfällen gekommen sei. Alle Versammlungen und Demonstrationen blieben gestern verboten. Dennoch versuchten knapp 10.000 Jugendliche nach dem Freitagsgebiet wieder, einen Demonstrationszug zu starten.
Es war ein Aufstand der Jugend. „Das ist unsere Intifada! Wir machen's wie die im Fernsehen in den besetzten Gebieten.“ So wird während der Unruhen ein Zwölfjähriger zitiert. Die palästinensischen Jugendlichen, die sich den Besatzern entgegenstellen, sind die Idole auch der Jugend Algeriens. Darüber hinaus gleichen die Szenen, die sich in den letzten Tagen in Algier abspielten, in der Tat den Bildern aus der Westbank, dem Gaza-Streifen und - dem Algier unter der französischen Besatzung: Ausgebrannte Autowracks und zerstörte Behördengebäude, geplünderte Lebensmittelgeschäfte und zerborstene Scheiben in den Luxusboutiquen des „Siegesparks“ - ausgerechnet dem Schaufenster der modernistischen Regierung von Staatspräsident Chadlis Benjedid. Das Ministerium für Jugend und Erziehung wurde von denen, die es meinte, angesteckt und aller seiner Akten entledigt. „Jugend, erhebe dich“, war eine der Parolen.
Wie das geschehen konnte? Die Frage stellt sich kaum einer in Algier - zu offensichtlich sind die Hinweise. Denn es waren keineswegs zufällige Orte, an denen die Demonstranten so kräftig ausschritten. Die staatlichen Supermärkte waren das erste Ziel der aufgebrachten Jugendlichen: Sie waren ursprünglich für die Armen gedacht und zeugen heute mit ihren leeren Regalen vom Niedergang der Wirtschaft. Das Handelsministerium, das jetzt ohne Fensterscheiben trostlos in die Zukunft blickt, die Vertretungen ausländischer Firmen wie das Lufthansa-Büro, das geplündert wurde - all das sind Symbole der neuen Wirtschaftspolitik, die Privatunternehmen fördern möchte. Und kein Zufall ist es auch, daß die Demonstranten ihre Wut an dem noblen Nachtclub „Blue Note“ ausließen, wo sich nicht nur die Nomenklatura der Bürokraten vergnügt, sondern auch die Spekulanten und Händler des Schwarzmarkts, die zu den ersten Nutznießern des Kurswechsels gehören. „Jugend, erhebe dich“ war neben einigen fundamental-islamischen Rufen die Parole des Mittwoch gewesen. Eine Jugend, zu der zwei Drittel der Bevölkerung des Landes gehören und die sich über den sinkenden Lebens Fortsetzung Seite 2
F O R T S E T Z U N G
standard nicht mehr mit Beschwichtigungen aus dem Zitatenschatz der algerischen Revolution hinwegtrösten läßt.
Daß die schlimmste Trockenheit seit 30 Jahren das Wasser in der vollkommen übervölkerten Hauptstadt hat knapp werden lassen, war nur der Auslöser der Unruhen. Das Reformprogramm hatte den Staatsfarmen Mittel entzogen, ohne daß die in den letzten Jahrzehnten stark behinderte und überalterte private Landwirtschaft schon in der Lage gewesen wäre, in die Bresche zu springen. Folge: horrende Preiserhöhungen für die knappen Grundnahrungsmittel und blühender Schwarzmarkt. Der niedrige Öl- und Gaspreis auf dem Weltmarkt, von dem die Exporteinnahmen Algeriens zu 90 Prozent abhängen, zwang die Regierung außerdem zum Sparen, so daß sie die Subventionen für Fleisch und andere Lebensmittel streichen zu müssen glaubte. So war die Explosion vom Mittwoch überraschend in ihrer Heftigkeit. Schon seit Wochen hatten Streiks die Industriegebiete Rouiba, El-Harrach und Bouira lahmgelegt, und letzte Woche schließlich sprang mit dem Streik der Postler der Funke auf die Hauptstadt über.
smo
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