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Katastrophen als Lebenselixier-betr.: "Desaster als Hobby", taz vom 26.9.88

betr.: „Desaster als Hobby“, taz vom 26.9.88

(...) Ich glaube auch nicht, daß es damit getan ist, Flugtage zu verbieten. Dem, was die Leute immer wieder dahintreibt - übrigens genaus zu Formel-I-Rennen -, dem ist nicht mit Argumenten oder gar Verboten zu begegnen. Waffenfetischismus hin, bewaffneter Imperialismus her: was rennen sie denn immer wieder hin zu solchen programmierten (Beinahe/oder doch-)Katastrophen, welchen persönlichen Nutzen zieht jeder einzelne daraus? Man sehe sich nur mal das Wörtchen „Sensationslust“ (Betonung auf „Lust“) genauer an; von der offensichtlichen Wichtigkeit von Todes- und Katastrophenmeldungen in den Medien (wenn's geht bitte recht viele Details) ganz zu schweigen.

Vor ein paar Jahren (oder waren's Jahrhunderte?) wußte man das durchaus sehr genau: Gib ihnen Brot und Spiele, hieß es, das hält die Massen ruhig, hieß es, und der das sagte, mag mit zynisch heruntergezogenen Mundwinkeln über dieses sein römisches Volk hinweggesehen haben. Hat sich heute etwa was geändert?

...den Bürger vor solchen Katastrophen schützen... etc... hört man allerorten. Will er das überhaupt, der Bürger? Und genau hier, bitte sehr, ist anzusetzen: Welche Defizite sind das, die „sie“ (oder ist „uns“ ehrlicher?) so sensationslüstern machen, die sie/uns beim Katastrophenkonsum so antörnen? Ich glaube nicht, daß es einfach Langeweile oder ein Überschuß von Kraft ist. Dem liegt wohl eher so ein dumpfiges Bewußtsein vom eigenen Nicht-leben, einer Sehnsucht nach Leben, zugrunde: nur durch möglichst engen Kontakt mit dem Tod (anderer) wird das eigene pulsierende Blut fühlbar, desto heißer, je grausamer die Katastrophe, und desto vibrierender, je enger der persönliche Kontakt mit dem Tode war. Überspitzt gesagt: Katastrophen, unser Lebenselixier; oder: je töter du, desto lebendiger ich.

Womit wir, sieh da, beim Wesen des Faschismus wären: Es müssen Opfer gebracht werden, zuerst die eigene Seele (ein Faschist ist innen tot), dann die anderen (die noch leben). Notfalls hilft er auch selber gerne nach, der Faschist, beim „Opfern“ der anderen. Zumindest aber üben Situationen, in denen sowas „zufällig mal“ passieren kann, einen ganz besonderen Reiz auf ihn aus. (...)

Ich möchte angesichts der Schrecken nicht auf der „Selbst -schuld„-Welle reiten. Zu fragen ist vielmehr nach den Mechanismen, die Menschen zum Töten bereit machen beziehungsweise dazu, Lust am Töten und an Katastrophen zu haben. Die allgemeine Lebenssituation in der BRD ist es sicher nicht alleine.

Michael Groß, Göttingen

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