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Ascona in uns

■ Anmerkungen zu Martin Greens „Mountain of Truth - The counterculture begins, Ascona 1900-1925“

Nicolaus Sombart

Martin Green nimmt in Mountain of Truth - The counterculture begins, Ascona, 1900-1920 (University Press of New England, Hanover 1986) seine kulturtopographischen Enqueten zur deutschen Geistesgeschichte wieder auf und zeichnet einen neuen Ort in das mitteleuropäische Nord-Süd -Kraftfeld ein, einen ganz kleinen Ort diesmal, dessen Name uns sofort aufhorchen läßt, nicht nur weil wir ihn schon gehört haben, sondern auch weil wir bereits über seine singuläre kulturelle Bedeutung belehrt worden sind. Und zwar durch eine berühmte Ausstellung von Harald Szeemann: Es handelt sich um Ascona.

Ascona wird uns präsentiert als eine Filiale - als ein Vorort gewissermaßen - von Schwabing, als Treff- und Sammelpunkt aller wichtigen Geister und Strömugen, die in Opposition zur herrschenden, durch Berlin symbolisierten Kultur auf der Suche nach Freiheit, nach neuen Lebensformen und Sonne im Süden eine Zuflucht suchten. Wer nicht alles nach Ascona strebte! Schon die Szeemannsche Ausstellung war eine Offenbarung. Martin Green geht noch weiter in der Inszenierung des Defilees all der bemerkenswerten Menschen, die im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne in dem kleinen Tessiner Kaff am Lago Maggiore Befreiung suchten und fanden. Ein deutscher Vorort? Man findet einen fast vollständigen Katalog aller Exponenten und Repräsentanten der wilhelminischen Gegenkultur: Anarchisten, Theosophen, Lebensreformer, Vegetarier, Religionsphilosophen, Mystiker, Feministinnen, Heilpädagogen, Dichter und natürlich Künstler aller Sparten, Protagonisten des Ausdruckstanzes und der freien Liebe: Mühsam und Landauer, Laban und Mary Wigman, Tillich und C.G.Jung, spaltenlang könnte man Namen aufführen, und mit vielen ist ein Überraschungseffekt verbunden. Natürlich stoßen wir auf Otto Gross, den Initiator neuer Lebensformen, auf dessen Spuren Martin Green Ascona entdeckt hat, und auch Max Weber, den es nach seiner „Konversion“ durch Else Jaffe auch dorhin gezogen hat, ebenfalls auf den Spuren von Otto Gross.

Was in den „Richthofen-Schwestern“ nur angedeutet war, wird in dem neuen Buch ausgeweitet zu einer großen topographisch -biographischen Studie, in der der Bedeutung von Otto Gross für Ascona und von Ascona für Otto Gross mit ihren vielfältigen Wirkungen auf Berlin, Wien, München und Prag nachgegangen wird. Dabei erfahren wir nicht nur Neues über Max Weber, sondern auch über Franz Kafka.

Was in Ascona geschah, geschah ohne einheitliches Programm. Jeder verfolgte seine Ideen für sich, es bildeten sich kleine Kreise, Gruppen und Grüppchen, aber keine Schulen. Die Impulse, die von hier ausgingen, wirkten sich oft ganz woanders aus - im „Norden“. Jede Avantgarde fand hier eine Stützpunkt: Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus.

Erst auf Ascona bezogen, erkennt man, wie sie alle zusmmenhängen, von Ascona aus kann man sehen, wie die Peripherie in das Zentrum zurückwirkt, wie der „Süden“ in den „Norden“ zurückschlägt, ein „back-lash“. In der Sprache der Psychoanalyse würde man von einer „Wiederkehr des Verdrängten“ sprechen. Damit berühren wir einen anderen wichtigen Aspekt der kulturtopographischen Hermeneutik.

Der „Topos“ Ascona ist auch zu verstehen als Syndrom einer geistig-seelischen Verfassung. Er bezeichnet nicht nur ein Biotop, sondern auch ein „Psychotop“ (der Ausdruck stammt von dem Architekten Neutra). Es gibt das Ascona in uns.

In seiner psychischen Valenz muß jeder geographische Ort(sname) mit seinen kulturellen Konnotationen, der Aura seiner Assoziationen, mit seinem semantischen Feld in Bezug gesehen werden zu der Topik, wie sie Sigmund Freud zur Explikation der Organisation des psychischen Apparats im Individuum entworfen hat. Diese (die zweite) gibt ja nicht nur Auskunft über den Ablauf seelischer Vorgänge im Innern des einzelnen, sondern schafft einen Zugang - den einzigen bisher gangbaren - zum Verständnis des Funktionierens des seelisch-geistigen Kräftehaushalts eines Gesellschaftskörpers. Es-Ich-Überich haben auch eine sozialpsychologisch-soziologische und damit eine anthropologisch-ethnische und damit eine kulturtopographische Dimension.

Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit ist, wie uns die Ethno-Psychoanalyse belehrt, ein über intrapsychische Vorgänge verlaufender soziologischer Prozeß, das Unbewußte auch eine soziologische Kategorie, unerläßlich zum Verständnis der Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen. Dasselbe gilt für das Überich. Beide sind im gesellschaftlichen Raum lokalisierbar. Keine Kulturtheorie, keine Kulturkritik ist heute mehr möglich, die diese Korrespondenzen nicht berücksichtigt. Eine ihrer wichtigsten Referenzen wird das „Lexikon des Unbewußten“ sein müssen. Es ist mit Ortsnamen gespickt.

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Die herrschende Kultur ist die Kultur der Herrschenden, die „Gegenkultur“ diejenige derer, die sich dieser Herrschaft entziehen oder die Herrschaftsverhältnisse verändern wollen. Eine kulturtopographische Hermeneutik als Erkenntnisinstrument einer kultursoziologischen Kulturtheorie wird sich auch als Schlüssel für das Verständnis der Dialektik von herrschender Kultur und Gegen(Sub-)kultur bewähren. Die Erkenntnisse der Ethno-Psychoanalyse finden ihre Ergänzung in denen der Ethno -Psychiatrie, wie sie Georges Devereux und seiner Schule zu danken sind. Einer ihrer zentralen Begriffe - am Schnittpunkt von Tiefenpsychologie und Soziologie - ist der des „espace culturel negativiste„; gemeint ist der in jeder sozialen Struktur (ethnisch und historisch) sich konstituierende Pol, von dem aus die Werte und Normen der herrschenden Kultur in Frage gestellt, „negiert“ werden. Dieser Ort der Negation ist potentell in jedem einzelnen die Voraussetzung der Möglichkeit einer psychischen „Störung“ und der damit verbundenen Anpassungsschwierigkeiten; er bezeichnet aber auch die soziale Position jeder kulturellen Opposition. Der Herd des „Desordre ethnique“ ist intrapsychisch und soziologisch der Topos, an dem alle „Subkulturen“ und „Gegenkulturen“, alle „Avantgarden“ und kreativen Veränderungsimpulse angesiedelt sind. Auch er ist „lokalisierbar“, und nicht nur mit Namen, sondern immer auch mit Ortsnamen zu bezeichnen. Ganz zweifellos hat er etwas mit dem „Süden“ zu tun. Am Anfang dieses Jahrhunderts war der „espace culturel negativiste“ in Ascona verortet.

Martin Greens Buch über Ascona, dem er den Untertitel gegeben hat „The Counterculture Begins“, muß auch als Beitrag zu einer Theorie der Subkultur gelesen werden. Eine Fallstudie „vor Ort“. Die kulturhermeneutische Erschließung eines Topos. Green behandelt in seinem Buch einen lange zurückliegenden, kurzen Zeitraum, die Periode von 1900 bis 1925. Er erzählt eine Geschichte, geht historisch -archäologisch zu Werke, doch ist er sich des Zusammenhangs seines Stoffes mit der Gegenwartsproblematik durchaus bewußt. Er weiß genau, daß er seine Aktualität aus dieser Gegenwartsbezogenheit gewinnt. Wir stehen am Ende dessen, was damals „begann“. Die Frage lautet natürlich: Was hat es mit dem Verhältnis von Kultur und Subkultur heute für eine Bewandtnis? Was ist aus Ascona geworden? Wo befindet sich geistig-topographisch die „offizielle“ - wo die „Gegen„kultur? Wie steht es mit dem Ascona in uns? Es ist leicht, Verbindungslinien nach Berkeley, in den Pariser Mai, zu den Berliner Kommunen, zu Friedensbewegung, Emanzentum, Schwulenbewegung und Grünen zu ziehen. Das tut Green auch. Man kann schnell zu dem Ergebnis kommen, ein halbes Jahrhundert später ist Ascona überall - nur nicht mehr in Ascona. Eine völlige Umkehrung der Verhältnisse hat stattgefunden. Die ehemaligen Hochburgen der „herrschenden“ Kultur sind geschleift und subkulturell überwuchert, vom Dschungel verschlungen - wie die Tempel von Ankor. In Ascona dagegen herrscht der totale Koformismus der höchsten Einkommensklasse der Konsumgesellschaft, nur daß man da von „herrschender“ Kultur gar nicht mehr sprechen kann. Wäre der Triumph der Subkultur das Ende der Kultur?

Was ist die offizielle Kultur der industriellen (oder meinetwegen post-industriellen) Gesellschaften, die das Erbe der bürgerlichen Gesellschaft des europäischen Kulturraums angetreten haben? In ihrem Erscheinungsbild, ihren Stilen, ihrem Selbstverständnis ist sie geprägt von jenen Ideen, die einmal das Programm subversiver Minoritäten waren. Es gibt keine „Avantgarde“ mehr, deren oppositionelle Attitüde nicht im Handumdrehen akzeptiert, integriert und zum authentischsten Ausdruck unserer Gesellschaft deklariert würde.

Der Traum von Ascona hat sich erfüllt. Das alte Über-Ich mit seinen Leitrepräsentationen ist entmachtet und demontiert. Der Acheron ist über die Ufer getreten. Woran soll sich das arme, schwache Ich noch halten, um in der Wirklichkeit zu bestehen? Selbst die Arbeit, an der es sich festmachen konnte, ist ihm genommen worden. Jetzt schwankt es, wie ein Rohr im Wind, zwischen Projektionen und Regressionen. Der „espace culture negativiste“ ist nicht mehr an bestimmte Orte gebunden. Ascona ist aufgegangen in einer ubiquitären, letztlich klassenlosen, ethnisch indifferenten Weltkultur, die denselben Marktgesetzen gehorcht wie der technologisch-szientistische Apparat des sekundären Systems, der einen eigenen „Kultur„-Anspruch selbst gar nicht mehr zu stellen wagt und nur noch das Gerüst abgibt, das stählerne Gerippe, an dem kulturelle Manifestationen jedweder Art, als etwas ihm Äußerliches angepappt sind wie seinerzeit die historistischen Stuckfassaden auf den Eisenkonstruktionen der Bahnhöfe.

„Subkultur“ ist heute genau das Gegenteil dessen, was sie früher war. Soweit der Begriff nicht überhaupt obsolet geworden ist, wird man damit die in den Untergrund abgesunkenen Residuen der ehemals „herrschenden“ Kultur bezeichnen müssen; jene trotzigen Versuche, in irgendwelchen Krypten oder Katakomben die Substanz der alten europäischen Kulturtradition und ihrer Werte, deren öffentlicher Kurs auf Null gesunken ist, allen Oberflächenerscheinungen und Trends zum Trotz, zu erhalten und womöglich zu perpetuieren. Man wird dazu alle Fundamentalismen rechnen müssen, wozu auch eine altmodische Vorstellung von wissenschaftlicher Akribie und Rechtschaffenheit gehört, die selbst in den Institutionen, die einmal für sie geschaffen wurden, marginalisiert worden ist.

Wo sind die neuen Zentren, wo die Peripherie? Wo „Nord“, wo „Süd“? Wo „oben“, wo „unten“? Wo liegt - sozial und geographisch - der Ort, an dem der Weltgeist zum Bewußtsein seiner selbst kommt? Das muß die Leitfrage einer neuen Hermeneutik sein.

Die neue Polarität, die es topologisch zu vermessen gilt, ist die von Exoterik und Esoterik. Die Ängste, die ein Baudrillard artikuliert, sind die des expropriierten Intellektuellen, der sich um seinen alten, subkulturellen Führungsanspruch betrogen sieht und schlicht die „Orientierung“ verloren hat. Der Kultursoziologe kann von der Gewißheit ausgehen, daß auch die neue Welt, so verwirrend sie scheinen mag, ihre Topik hat und daß sich ihr Raum letzten Endes auch nach einem erd- und körpergebundenen Grundschema strukturiert.

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