Sexualfeindlich und doppelzüngig

■ Aids als Schlußpunkt der Jahrestagung der SexualforscherInnen / Mißtrauen gegenüber Aids-Politik nicht nur in Bayern angebracht / Kritik an zu defensiver Aids-Hilfe

Oft gescholten, sich aus aktuellen Auseinandersetzungen herauszuhalten, setzten die versammelten Sexologen das Thema Aids als prominenten Schlußpunkt ihrer Jahrestagung. Professor Volkmar Sigusch, graue Eminenz wie intellektuelle Diva der ehrenwerten Gesellschaft, beschäftigte sich mit der Frage, ob der Staat über Aids aufklären soll und kann. In der ihm eigenen Mischung aus scharfzüngiger Analyse und wüstem, trockenem Witz führte er sichtlich zur eigenen Zufriedenheit vor, was er unter kritischer Sexualwissenschaft versteht. Scharf die „verbrecherische Politik des Freistaats Bayern“ attackierend, diagnostizierte er in der staatlichen Aids-Aufklärung ein bisher ungekanntes Maß an Vergesellschaftung einer Krankheit. Es würden nicht nur Präventionshinweise gegeben, sondern Aussagen über „moralisches Verhalten“ getroffen. Dann zog er die ganz große Linie, stellte die staatliche Aids-Aufklärung in ökonomische und politische Zusammenhänge, kennzeichnet sie als in Wirklichkeit ebenso sexualfeindlich wie doppelzüngig. „Kann man dieser Regierung Vertrauen schenken?“ fragte er listig und klassifiziert schließlich eine „besonnene staatliche Aids-Politik“ als Illusion.

Es gehöre zum Wesen des Staates, Sexuelles zu verfolgen, zu reglementieren. Bisher sehe er zwar ein auch für ihn überraschendes Übergewicht liberaler Haltungen, doch die Decke der Toleranz sei dünn. „Der Staat muß raus aus der Aids-Aufklärung“, forderte Sigusch zum Abschluß. Man solle ihm das Mißtrauen aussprechen, nicht hereinfallen auf persönliche Integrität, auf humanistische Obertöne bei den Aids-GeneralstäblerInnen. „Wir sollten“, fügt er mit einem kleinen Lächeln hinzu, „auf Geist- und Triebdurchbruch setzen.“

Die Heidelberger Psychologen Sophinette Becker und Ulrich Clement zeigten in ihrem Beitrag, wie die politische Realität sich auf die Befindlichkeit von HIV-Positiven auswirken kann. Beide arbeiten an der psychosomatischen Klinik Heidelberg mit HIV-Positiven, leiten dort ein Forschungsprojekt und sehen sowohl Aids als auch die Diagnose HIV-positiv zunehmend als öffentliche Diagnose.

Sowohl dem Konzept einer „guten“ wie dem einer „bösen, gefährlichen“ Sexualität erteilen sie eine Abfuhr: „Die Aids -Hilfen unterschätzen den Trieb, die Bayern unterschätzen die Vernunft!“ Der Widerspruch im Sexuellen müsse gesehen und ausgehalten werden, Ziel sei eine positiv zu verstehende Ambivalenz wie beispielsweise in dem Satz: „Ich habe mir zwar beim Sex das HIV geholt, aber dies macht nicht meine gesamte Sexualität schlecht.“

Eine deutliche Mahnung ging zum Schluß an die Aids-Hilfen. Deren „triebrationalistische Haltung“, so Becker und Clement, sei allzuoft defensiv und lasse sich zunehmend auf Erfolgsnachweise festlegen.

„Bei uns gibt es noch einen alten Wandspruch aus den Zeiten des Sozialistischen Patientenkollektivs“, sagte Sophinette Becker, „und der lautet: Glaub nicht, bloß weil du paranoid bist, daß sie nicht hinter dir her sind!“

Matthias Frings