: Pinochet - abgewählt und doch im Amt
■ Opposition fordert Rücktritt / Pinochet bunkert sich ein / Aus Santiago de Chile Thomas Schmid
Gut eine Woche nach dem Referendum in Chile, bei dem Diktator Pinochet eine Niederlage einstecken mußte, scheint der Alltag in Santiago wieder einzukehren. Die Opposition fordert den Rücktritt von Pinochet, der denkt aber nicht daran. Der Unterstützung der chilenischen Rechten kann sich Pinochet nicht mehr uneingeschränkt sicher sein. Die Mobilisierung der Bevölkerung soll die Opposition für Verhandlungen mit den Militärs stärken. Ziel ist eine Verfassungsänderung und freie Wahlen.
Santiago scheint wieder zu seinem normalen Alltag zurückgefunden zu haben. In der Fußgängerzone der Innenstadt drängeln sich Geschäftsleute, Spaziergänger und Straßenhändler. In den Poblaciones, den Armenvierteln, snifft und kifft die Jugend wie eh und je. Und die Gruppe „Sebastian Acevedo“, benannt nach einem Arbeiter, der sich selbst verbrannt hat, um auf das Schicksal seiner zwei Söhne, die vom Geheimdienst verschleppt worden waren, hinzuweisen, demonstriert schon wieder gegen die Folter und wird schon wieder zusammengeschlagen. All das, als ob nicht erst vor zehn Tagen noch eine Million Chilenen gegen Pinochet auf die Straße gegangen wären, als ob nicht erst vor einer Woche fast vier Millionen Chilenen Nein zu Pinochet gesagt hätten.
Das Urteil des Volkes war klar. 55 Prozent gegen, 43 Prozent für Pinochet. Der Diktator hat verloren, doch er macht nicht die geringsten Anstalten aufzugeben. Im Gegenteil: Er bunkert sich ein. Er will - wie es die Verfassung vorsieht - mindestens noch 15 weitere Monate die Politik diktieren und dann die Regierungsgeschäfte an einen gewählten Präsidenten abgeben, am liebsten wohl an sich selbst. Am Sonntag erschienen jedenfalls in einigen regierungsnahen Blättern bereits erste Anzeigen mit dem Slogan „1989, Jahr der Entscheidung“, dazu ein Bild mit dem freundlich lächelnden Diktator, unterzeichnet: „Bewegung Unabhängiger Pinochetisten“.
Doch die Verfassung - da sind sich die Experten einig verbietet eine erneute Kandidatur des am letzten Mittwoch durchgefallenen Kandidaten. Eine Wiederwahl des Präsidenten ist grundsätzlich ausgeschlossen - sie wäre nur als Ausnahme aufgrund einer Übergangsbestimmung und nur über dieses einmalige Plebiszit möglich gewesen. Das hat wohl auch eine mysteriöse Bewegung namens „Die Botschafter Pinochets“ akzeptiert. Die vom Parapsychologen Cesar Retamal alias „Professor Hardy“ angeführte Gruppe schlug gestern ebenfalls über Anzeigen in Regierungsblättern - Lucia Hiriart de Pinochet, die Gemahlin des Diktators, zur Präsidentschaftskandidatin für die für Dezember 1989 angekündigten Wahlen vor. Bislang hat allerdings erst einer seine Kandidatur öffentlich angemeldet: Pablo Rodriguez, Gründer der rechtsradikalen Kommandos von „Patria y Libertad“, die mit Bombenterror gegen die Regierung Allende vorgingen und die seit Tagen wieder für Schlagzeilen sorgen.
Doch daß Pinochet nach seiner fulminanten Niederlage noch 15 Monate weiter im Amt bleibt, scheint absurd, wenn auch nicht ausgeschlossen. Kommunisten, Sozialisten, Radikale und Humanisten fordern den Rücktritt des Diktators. Das von der Christdemokratie dominierte Zentrum will zumindest die Wahlen vorziehen. Und selbst bei den rechtsradikalen Unterstützern des Diktators zeigen sich erste Risse. So haben sich die „Nationale Erneuerung“ und die „Union Unabhängiger Demokraten“ bereits für geringe Verfassungsänderungen ausgesprochen, die erlauben würden, daß die Verfassung später geändert werden kann. Denn in ihrem Bemühen, ihre Herrschaft auf alle Zeiten abzusichern, hat die Diktatur dem Land ein Grundgesetz verpaßt, das Änderungen gegen den Willen der Militärs faktisch nicht zuläßt. Die Opposition fordert Verfassungsänderungen, um freie Wahlen - unter Zulassung der Sozialisten und Kommunisten - zu ermöglichen, und vor allem ist sie gegen eine Kontrolle von Regierung und Parlament durch einen militärisch dominierten Nationalen Sicherheitsrat.
Verhandlungen über Verfassungsänderungen setzen natürlich voraus, daß man auf der anderen Seite einen Gesprächspartner findet - und das kann angesichts der herrschenden Verhältnisse nur das Militär sein. So richtet sich denn alle Hoffnung der Opposition darauf, daß sich die Militärs vom Verlierer Pinochet absetzen. Die Linke will dem - bislang bleibt es bei der Ankündigung - mit Massenmobilisierung und Streiks nachhelfen, das Zentrum setzt eher auf Einsicht der Militärs. Luftwaffenchef Fernando Matthei, munkeln Optimisten, habe der Kandidatur Pinochets fürs Plebiszit nur zugestimmt, um ihn auflaufen zu lassen. Und hatte Matthei am Abend des Plebiszits nicht vielleicht sogar eine militärische Intervention, einen „Putsch“ mit verhindert, indem er den Sieg des Nein öffentlich anerkannte, schon bevor er zur entscheidenden mitternächtlichen Sitzung im Präsidentenpalast eintraf, wo die Möglichkeit erwogen wurde, auf bewaffnetem Weg einen Sieg des Ja durchzusetzen? Oberst Jose Zara stand mit seiner Sondereinheit, den „Schwarzmützen“, die in Gurkha-Manier ihre Krummsäbel am Uniformgurt tragen, bereits auf Abruf. Auch zwei Panzerregimenter waren schon geordert. Neben Matthei wird noch einem zweiten Mitglied der Junta „Flexibilität“ bescheinigt: Rodolfo Stange, Chef der Carabineros, hat sich schon öfter etwas distanziert über Pinochet geäußert. Die andern beiden Mitglieder der Junta, Admiral Merino, Chef der Marine und Putschist der ersten Stunde, sowie General Sinclair, Stellvertreter Pinochets als Oberkommandierender des Heeres, gelten hingegen als harte Knochen.
Doch die Hoffnung auf Dialogbereitschaft der Armee gründet sich bislang auf pure Spekulation. Die Militärs haben nach dem Plebiszit keine Signale ausgesandt, die eine solche Hoffnung nähren könnten. Vor allem innerhalb des Heeres, traditionell weitaus stärkste Teilstreitkraft, die direkt von Pinochet kommandiert wird, sind keine Risse, keine Strömungen, keine Fraktionen sichtbar. Der Diktator, sagen Experten, habe sehr viel Mühe darauf verwandt, über geschickte Personal- und Beförderungspolitik ein ihm völlig ergebenes und auf seine Person maßgeschneidertes Heer aufzubauen.
Der Geheimdienst des Heeres, heißt es, sei vorwiegend mit der Bespitzelung der eigenen Offiziere und Soldaten beschäftigt, um rechtzeitig antipinochetistische Strömungen zu entdecken und auszuschalten. Doch was zur Zeit in der Armee vor sich geht, weiß niemand auch nur mit annähernder Sicherheit.
Pinochets Strategie ist klar: die Opposition auflaufen lassen und im übrigen den in der Verfassung vorgezeichneten Weg verfolgen, der zwar zu Wahlen, aber nie zur Demokratie führen wird. Die gesamte Opposition - mit Ausnahme einer politisch bedeutungslosen Fraktion des linkskommunistischen MIR und der politisch ebenfalls bedeutungslosen, in zwei Fraktionen gespaltenen Guerilla „Patriotische Front Manuel Rodriguez“ - setzt demgegenüber letztlich auf Verhandlungen. Vor allem die Zentrumsparteien betonen unentwegt, daß Pinochet, nicht aber die Streitkräfte eine Niederlage erlitten hätten - als ob Pinochet nicht von den Oberkommandierenden der Armee zu ihrem Kandidaten gekürt worden wäre, als ob das Votum vom vergangenen Mittwoch nicht auch ein Votum gegen die Diktatur insgesamt gewesen wäre. Wenn gewisse Politiker nicht lügen, wurden die Streitkräfte von Pinochet regelrecht dazu verführt, Funktionen auszuüben, die ihrem Wesen zutiefst widersprechen. Jedenfalls feiert der Mythos von der eigentlich neutralen Armee fröhliche Urständ.
Auch die Linke setzt letztlich auf Verhandlungen mit den Militärs, will diese aber aus einer Position der Stärke heraus führen, die auf einer mobilisierten Bevölkerung beruht. Allein über Demonstrationen, Proteste und Streiks die Diktatur in die Knie zwingen zu können, wie es auf den Philippinen gelungen war, daran glaubt ernsthaft kaum jemand. Es fehlt eine Integrationsfigur wie Cory Aquino. Es fehlt eine Guerilla als für die Militärs schlimmeres Übel im Hintergrund.
Verfassungsänderung
und Wahlen
Noch ist in der Opposition umstritten, mit wem eigentlich verhandelt werden soll. Patricio Aylwin, Chef der Christdemokraten, kann sich auch Verhandlungen mit Pinochet vorstellen. Der gemäßigte Sozialist Ricardo Lagos, Präsident der „Partei für die Demokratie“ und seit seinem berühmten Fingerzeig, womit er im Fernsehen den imaginären Diktator für Folter und Verhandlungen verantwortlich machte, wohl populärster Oppositionspolitiker des Landes, vertritt die Ansicht, Militärs und Opposition sollten je für sich autonom ihre Verhandlungsdelegation zusammenstellen und die des Gegners a priori akzpetieren. Die „Vereinigte Linke“ hält Verhandlungen mit Pinochet, dessen Rücktritt sie fordert, schlicht für ein Unding und will mit der Junta oder einer anderen Militärdelegation in Dialog treten.
Doch zumindest über den Verhandlungsgegenstand herrscht in der Opposition im großen und ganzen Einigkeit: Verfassungsänderungen und freie Wahlen. Alles, was darüber hinausgeht, sprengt den Konsens, und die Opposition hütet die recht mühsam gewonnene Einheit wie einen Augapfel. Eine öffentliche Auseinandersetzung über die weitere Zukunft findet kaum statt. Man will dem Diktator, der es oft genug verstanden hat, die Oppositionsparteien geschickt gegeneinander auszuspielen, keine unnötige Angriffsfläche bieten. Man hat Angst vor dem Fall Korea und wird in den kommenden Wahlen dem Kandidaten der Diktatur wohl einen christdemokratischen Einheitskandidaten gegenüberstellen. Man hat Angst, daß Pinochet das Land - notfalls mit Terror, bei Bedarf mit provozierten Revolten in den Armenvierteln polarisiert, ins Chaos stürzt. Der herrschenden „Kultur der Konfrontation“ hält die Opposition die „Kultur der Begegnung“ und die „Kultur der Aussöhnung“ entgegen. Pinochet hat das Volk gespalten, die Opposition verspricht, es zu einen.
„El pueblo unido jamas sera vencido“ - „Das vereinte Volk wird nie besiegt werden.“ Der alte Schlachtruf aus der Zeiten der 1973 gestürzten Regierung Salvador Allendes stimme immer noch, meint Juan Guituerrez, Generalsekretär der „Historischen Sozialistischen Partei“, einem der zahlreichen Splitter, in die die Partei Allendes inzwischen verfallen ist. Und in einem Ton bitterer Ironie erklärt der Politiker, der sieben Jahr unentdeckt im Untergrund arbeitete: „Wir waren ja nie einig, und deshalb wurden wir besiegt.“
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