Plötzliche Ruhe in Algier

Nach mehr als 400 Toten zieht die Armee überraschend aus Algier ab Versorgung in der Hauptstadt Algeriens merklich verbessert  ■  Aus Algier Georg Blume

Ein Panzerfahrer ist aus seinem Führerhaus hinab auf die Straße Algiers gestiegen und spricht mit einem Passanten. Neugierige beäugen den für neuere algerische Verhältnisse ungewohnten Dialog. Man versucht gemeinsam zu lachen, doch noch steht Angst und Ungeduld auf den meisten Gesichtern. Die algerische Armee zeigte sich gestern erstmals wieder im freundlicheren Gewand, der Belagerungszustand war gestern überraschend beendet worden.

Bereits am Mittwoch morgen um fünf Uhr hatte Algeriens Staatspräsident Chadli Bendjedid außer dem in der letzen Woche verhängten Belagerungszustand auch die nächtliche Ausgangssperre wieder aufgehoben. Jetzt sollen, so Chadli, die zivilen Behörden wieder für Ordnung im Land sorgen. Wie die Ordnung aussah, die die Armee schafft, hatte Algerien zuvor erstmals seit dem Unabhängigkeitstag zu spüren bekommen: die Zahl der Todesopfer, die die Unruhen forderten, liegt nach inoffiziellen Angaben bei 450. Presseleute stützen sich bei diesen Schätzungen auf Augenzeugenberichte und Ärzte. Die Regierung zählte offiziell bis zum Montag 176 Tote.

Chadlis Entschärfungsmaßnahmen stießen deshalb zum derzeitigen Zeitpunkt auf Überraschung. Fundamentalistische Gruppen hatten nach der Fernsehansprache des Präsidenten am Montag ihre nächste Aktion für den morgigen Freitag, dem islamischen Gebets- und Feiertag, angekündigt.

Nachdem Panzerfahrzeuge und Armeewagen bis zum späten Dienstag abend alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte, Plätze und Alleen in demonstrativer Allgegenwärtigkeit besetzt hielten, glich die Atmosphäre in Algier gestern wieder der des Alltags. Armeeposten waren nur noch vereinzelt sichtbar. In den einzel Fortsetzung Seite 2

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nen Stadtteilen sind die groben Aufräumarbeiten nach den blutigen Demonstrationen der Vortage weitgehend abgeschlossen. Währenddessen läßt die Regierung staatlichen und privaten Geschäften ausreichende Lagerbestände zuteilen, so daß die Bewohner Algiers einigermaßen versorgt sind. Die zusätzlichen Lieferungen waren bereits am Montag eingeleitet worden.

Dennoch kann die Regierung - offenbar anders als in den westlichen Städten des Landes - der Ruhe in Algier kaum trauen. Zwar wurden noch am Dienstag aus Oran, der Heimatstadt Chadlis, und anderen Orten Westalgeriens erstmals wieder Volkskundgebungen zur Unterstützung der Regierung gemeldet. Diesen offiziellen Berichten ist allerdings wenig Glauben zu schenken. Über die Stärke der fundamentalistischen Opposition ist derzeit allerdings wenig bekannt. Beobachter gehen davon aus, daß der Abzug der Armee für Chadli nicht ohne Risiko ist.