Lange Nacht der Gaukler

■ „Besucher“ von Botho Strauß zur Uraufführung in den Münchener Kammerspielen

Ist der Kerl noch des Spottes wert? Wahrscheinlich nicht. Aber man darf auch nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Max heißt das Gebilde...“

Der Narr, der in so beschwingtem Shakespeare-Ton an sich verzweifelt, Max der Schauspieler, soll wieder einmal sich selbst darstellen. Die „farbige Nebenrolle“ des kleinen Versagers ausgerechnet an der Seite seines Idols, des berühmten Mimen Karl Joseph. Da will ihm kein Satz richtig über die Lippen. Er stolpert, wird immer linkischer, versucht - wenn schon nicht als Darsteller - so wenigstens als Fall zu imponieren. Preziös lamentierend, dann wieder manisch aufgebracht, expliziert er den staunenden Kollegen erst die eigene Krise und dann die des Theaters im allgemeinen. Max, „der nicht ganz so große Künstler“, versucht sich in Scharfsinn zu retten.

Der konservative K. Joseph weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Für diese Spielart eines haltlos zerknirschten Narzißmus, der sein Therapieziel weitschweifig erklärt, um es dann ausgerechnet auf der Bühne ständig zu verfehlen, fehlt dem Profi-Egozentriker der Nerv. „Neunzehnmal den Lear gespielt im vergangenen Monat, und nun diese lächerliche Tragödie eines Stümpers!“

Auch Edna Gruber tut sich schwer mit ihrem Entree an der Seite ihres Idols. Nach langer Bühnenabstinenz - sie lebt zurückgezogen mit vielen Tieren auf dem Lande - stürzt sie sich erst mit gestautem Pathos auf ihre Rolle der braven Professorentochter, um ebenso abrupt festzustellen, daß sie die Rolle aus Gesinnungsgründen - wegen der Tierexperimente des Vaters - gar nicht spielen kann. „Nicht das Können entscheidet - sondern das Nicht-anders-Können.“

Vor dieser Übermacht an Chaoten und Kriseneuphorikern kann sich K. Joseph, dem die Spitze gilt, nur noch ins Memorieren großer Zeiten, ins anekdotische Abseits zurückziehen.

Das Komischste und Listigste an Botho Strauß‘ neuem Stück ist diese boulevardeske Beziehungskiste der drei Komödianten, die alle gleich engherzig für ihren jeweiligen Mangel werben: der ewige Zwist der verschiedenen theatralischen Standpunkte und Temperamente.

In der Münchener Uraufführung (Regie: Dieter Dorn) ist dieser archetypische Clinch inszeniert als vexierbildartiges Verwirrspiel. Wie man es auch dreht und wendet: Jeder hat das Recht und ist doch falsch, und so kommt die Wahrheit nie zu ihrem Recht.

Max‘ Realismusschelte gegen eine gängige Theaterpraxis ist nur zu wahr, wahr ist aber auch, daß der Moralist seiner Moral selber am meisten bedarf, sein Eifer im Grunde den eigenen Anfeindungen gilt. Das Charisma des Großartigen, einer gesteigerten Ausdruckskraft, die Max auf dem Theater vermißt, fehlt gerade ihm, bleibt er doch selbst in der Orientierungsnotdurft, im Kampf mit den pragmatischen Seelentechniken, also im „Realismus“ stecken. Josephs Bosheit trifft: „Häßlich spielen Sie, Menschenskind. Häßlich und ungesund. Ohne inneren Schwung, ohne äußere Anmut.“ Und so wird Max in München auch gespielt von Axel Milberg: gehemmt, linkisch, unmelodisch, mit laienhaft intonierter Rede, als fehle im selbst der Glaube, als quäle er sich durch die Tücken eines Scharfsinns, der kein Talent ersetzt.

Doch der Routinier Joseph ist wiederum auch der Falsche, um Recht zu haben. Was dem „kalten Könner“ und allen abgelebten Knattermimen der höheren Schule abgeht, ist die Erkenntnis, daß es ein Hauptindiz alles Lebendigen ist, mit dem Leben nicht fertig zu werden, seine Rolle nicht zu erfassen. Der gefürchtete Altstar als störrischer, alter Ochse, dem die ganze moderne Richtung ein rotes Tuch ist: von Heinz Bennent mit graziöser Rätselhaftigkeit gespielt. Wie er in einer Art Taubstummensprache alles Gesagte gestisch noch einmal verdoppelt, dazu der tumbe, buhlende Blick ins Publikum, das leicht bezechte Kopfwackeln, der schlagflüssig verlangsamte Singsang: Ist das der „Faust“, den Quadflieg, oder der, den Herr Minetti gab, oder gleich Thomalla oder alles in einem, in Bennent selbst?

Max und K. Joseph sind komische Helden. Edna Gruber wirkt so wie Cornelia Froboess sie spielt - darüber hinaus fast ergreifend: weltfremd, ein bißchen verwildert mit ihren Tieren, die sie überall aufliest, zu Grundsätzen aufgelegt, aber viel zu zerstreut, um sie auch einzuhalten, wie vergraben in Gedanken, aus deren Hinterhalt plötzlich spitze Bemerkungen das Licht der Welt erblicken. Mit dieser Figur ist das Stück auf der Höhe von „Groß und Klein“. Und - was den Grad der poetischen Temperiertheit angeht - auch in mehreren surrealen Episoden, in die Max sich hineinstürzt, auf der Flucht vor sich selbst, der peinlichen (Bewährungs -)Probe seiner Rolle. Etwa wenn er mit einem Kirmesbudenmann um den Titel des Einsamsten aller Einsamen kämpft; oder wenn er, statt sich zu entkommen, sich plötzlich in der Maske eines Zuschauers verdoppelt, der ihm mit seiner Frau davonläuft...

Aus vielen Szenen funkelt sophistischer Schalk, und wo nicht, klingt der Ton leicht eingesegnet, so, wenn Max vom „Schönweh“ gepackt wird wie der Hohenmönchsberger Handke (mit dem B.Strauß ansonsten wenig gemein hat). Auch segelt das Stück mit hohem Seegang in Welttheater-Metaphorik, worin die fast vierstündige Münchener Uraufführung bis ins kleinste Requisit allzu akribisch kollaboriert.

Botho Strauß ist aber doch beinah der einzige, der die neueren Figuren wirklich sprechen läßt auf dem Theater, der ihre Floskeln und Stummelsprache, diesen restringierten Code, auf seine Klopfzeichen abhört. Und die Figuren mit einer gewissen Rührung sieht, wodurch sie auf einmal wirklicher erscheinen. Manche mögen nur den „kalten Könner“ B.Strauß. Wo aber ein fast naiver, seltsam wohlerzogener Glaube an die versteckte Poesie unserer Gegenwartsprosa den Autor ergreift, da ergreifen sie - allzu nervös - die Flucht.

Gabriele Killert