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„Laguna Verde ist ein historisches Verbrechen“

In Mexiko begannen die Proteste gegen die Beladung des Atomkraftwerks Laguna Verde / Gemeinsame Aktionen verschiedener Widerstandsgruppen / Regierung wird „autoritäres“ und „selbstherrliches“ Vorgehen vorgeworfen  ■  Aus Jalapa Reimar Paul

„Mit Beginn der Beladung des Reaktors von Laguna Verde ist ein historisches Verbrechen begangen worden. Vielen Dank, Herr Präsident.“ Der sarkastische Text, den die „Ökologie und Anti-Atom-Gruppen von Veracruz“ am Samstag als ganzseitige Anzeige in der Regionalzeitung 'Diario de Jalapa‘ veröffentlichten, greift zu kurz. Denn mit dem Beginn der Beladung ist auch ein neues Kapitel im aktuellen Geschichtsbuch der innenpolitischen Konfrontationen des Landes aufgeschlagen. Die bevorstehende Inbetriebnahme von Mexikos erstem Atomkraftwerk hat über Nacht Wahlbetrug, Wirtschaftskrise und Wirbelstürme aus den Schlagzeilen der öffentlichen Diskussion verdrängt.

Umweltschützer, Oppositionspolitiker, Journalisten, Polizisten und Soldaten - Tausende machten sich am Wochenende auf den Weg an die Atlantikküste zum Protest gegen den Reaktor oder zum „Schutz“ desselben. Ein zentraler Schauplatz des Geschehens ist die Provinzhauptstadt Jalapa. Bereits am Abend, bevor der Reaktor mit Brennelementen beschickt wurde, gab es eine große Demonstration. Junge Leute verteilen Flugblätter. Viele tragen rote Schleifen oder rote Stirnbänder im Haar, das Symbol des Atom -Widerstands. Vor dem Regierungspalast hat sich das „Anti -Atom-Komitee der Mütter von Veracruz“ zu einer Mahnwache versammelt. Die „Madres“, seit Beginn der Bewegung vor zweieinhalb Jahren eine der Säulen im regionalen Widerstand, klagen die nicht eingehaltenen Versprechen des Präsidenten De la Madrid ein, vor dem Anschalten des Reaktors eine Befragung der Bevölkerung vorzunehmen.

Das „autoritäre“ und „selbstherrliche“ Vorgehen der Regierung ist auch ein wesentlicher Kritikpunkt der „Gruppe der Hundert“, in der sich nach dem Tschernobyl-Unfall Künstler und Intellektuelle aus dem ganzen Land zusammengeschlossen haben. „Wenn selbst Pinochet ein Referendum durchgeführt hat“, so fragt ihr Sprecher, der Dichter Homero Aridjis, „warum verweigern dann unsere 'Revolutionäre‘ dem Volk dieses Recht?“

In dieselbe Kerbe der fehlenden demokratischen Legitimation des Projekts Laguna Verde schlägt Cuauhtemoc Cardenas, der um den Wahlsieg betrogene, aber bei seinem Auftritten dennoch als „Präsident aller freien Mexikaner“ gefeierte Exkandidat des linken Parteibündnisses FDN. Cuauhtemoc Cardenas, grundsätzlich kein Gegner der Atomenergie, hat sich für den Sonntag als Redner bei zwei Demonstrationen in der Nähe des Atomkraftwerks angekündigt, um gegen den „nuklearen Handstreich“ der Regierung Stimmung zu machen.

Ob mit oder ohne Referendum: Die Kaffeeanbauer und Rinderzüchter in der Provinz sind, so weit sie sich artikulieren, mehrheitlich gegen das Atomkraftwerk. Ihr Protest richtet sich allerdings gegen den Standort. Ihnen geht es vor allem um ihre Sträucher, ihre Weiden und ihre Kühe. Antonio Sosa, Funktionär des örtlichen Viehzüchterverbandes: „Laguna Verde bedeutet den wirtschaftlichen Tod einer blühenden Region.“

Konsequente, wenn auch im wesentlichen moralisch begründete Atomgegnerschaft wird in den Kreisen des kirchlichen Widerstands vertreten. In mehreren Gemeinden der Erzdiözese Jalapa finden seit Monaten Protestgottesdienste statt. Neben zahlreichen Priestern haben auch einige Bischöfe Stellung bezogen: „Wir sind keine Wissenschaftler, aber wir haben Angst.“

Weitergehende Argumente, die das in Mexiko nicht einmal auf dem Papier gelöste Atommüllproblem, die Langzeitfolgen radioaktiver Strahlung und militärische Aspekte betreffen, werfen die aus Stadtteilgruppen und unorganisierten Linken zusammengesetzten Anti-Atom-Initiativen aus Veracruz, Jalapa und Mexiko-Stadt in die Diskussion. Eher skurril nimmt sich in diesem Zusammenhang die Forderung der relativ unbedeutenden Grünen Partei aus. Die mexikanischen Grünen verlangen, daß sich die verantwortlichen Minister schriftlich für das Funktionieren von Laguna Verde verantwortlich erklären sollen, damit man sie im Falle eines Unfalls rechtlich belangen kann.

Alle Gruppen und Fraktionen der mexikanischen Atomgegner stimmen indes überein, daß der Widerstand, ungeachtet der für notwendig gehaltenen Radikalisierung, „legal“ und „pazifistisch“ bleiben soll. In der Praxis heißt das, daß menschenverletzende Gewalt ausgeschlossen wird. Auch über Sabotage und Bauplatzbesetzungen wird zur Zeit nicht geredet. Straßenblockaden und Hausbesetzungen sind jedoch feste Bestandteile der für die kommenden Tage geplanten Aktivitäten. Ebenso wird an das gesamte, in der Bundesrepublik unter „ziviler Ungehorsam“ laufende Aktionsspektrum gedacht, wie zum Beispiel kollektives Lichtabschalten oder das Nichtbezahlen der Stromrechnungen. Darüber hinaus haben die AKW-GegnerInnen für den Montag zu Arbeitsniederlegungen in der gesamten Provinz aufgerufen, und auch der seit Tagen andauernde Schülerstreik in den Gemeinden der Umgebung des Reaktors soll weitergehen.

Die Propagandaarbeit zugunsten des Atoms bleibt schwerpunktmäßig den sich seriös gebenden, wenn auch nicht mit außerordentlicher Sachkenntnis gesegneten lokalen Funktionären der PRI und des staatlichen Versorgungsunternehmens CFE überlassen. Sie bejubeln den mit dem Einstieg ins Zeitalter der Kernenergie verbundenen „technologischen Fortschritt“ und freuen sich über die jetzt erlangte Unabhängigkeit von teurer Importkohle.

Aber auch dubiose Vereinigungen wie das „Komitee zur Verteidigung der Kernenergie“ mischen sich unter das zahlreich versammelte Volk. In einem seiner Flugblätter heißt es: „Bürger von Veracruz, mit einer vom Ausland finanzierten terroristischen Kampagne (...) wollen die Ökologiegruppen euch als Kanonenfutter bei gewalttätigen Anschlägen gegen das Kernkraftwerk verheizen und wie ihre ökologischen Kumpane aus Westdeutschland das Land in den Bürgerkrieg stürzen (...) Ohne die Kernenergie sind Millionen von Mexdikanern zum Sterben verdammt. Das ist der wahre Ökozid, den die Ökologen provozieren wollen. Die Ökologen sind hundertmal schlimmer als Hitler.“

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