: Realität ist Unsinn
■ Irving Lerner über den Dokumentarfilmer Robert J. Flaherty
Irving Lerner, geb. 1909 in New York, 1976 in Los Angeles gestorben. Bis 1946 Dokumentarfilmer und während dieser Zeit auch für R.J. Flaherty als Kameramann und General Assistent tätig. Dreht ab 1946 Spielfilme. Bekanntgeworden ist I.Lerner weder als der eine noch der andere. Nicht einmal als einer der wahrscheinlich besten Cutter, die der Film bislang gehabt hat.
Robert J. Flaherty. Wiederentdeckter Dokumentarfilmer, dessen Arbeiten West 3 vorstellt - im Original oder original rekonstruiert. An der „Louisiana Story“ hat Flaherty von 1946 bis '48 gearbeitet. Im Film wird in den Sümpfen von Louisiana nach Erdöl gebohrt, aber die Natur behält die Oberhand. Louisiana Story, West 3, 22.30 Uhr.
Damals haben alle Leute gesagt, Dokumentarfilme seien „ehrlich“, sie seien „realistisch“, man hat eine Ideologie daraus gemacht. Für mich gibt es das alles nicht. Selbst mal angenommen, jemand geht hin und stellt seine Kamera ganz und gar wahllos irgendwo auf und läßt sie zusätzlich noch mit Fernbedienung laufen - er kann das alles nicht tun, ohne in die Realität einzugreifen und sie damit zu verändern. Denn in dem Augenblick, wo du etwas aufnimmst, egal was, da arbeitest du bereits wie ein Cutter, oder zumindest vom Standpunkt eines Cutters aus: du eliminierst durch die Abgrenzung des Bildausschnitts, du wählst aus. Anders gesagt: du „verfälschst“ Realität - zumindest aus der Sicht jener Naturalisten, die dann zwar möglicherweise eine Ahnung bekommen von den realen Zusammenhängen einer Sache, kaum aber von dem, was Film ist. Für mich haben sich die Probleme, einen dokumentarischen Film zu machen, niemals von den Problemen lösen lassen, irgendeine Art von Film zu machen. Das Entscheidende ist, was der Film sagt, und nicht, wie er gemacht worden ist. Wie du es machst, das ist dein Problem. Und nicht das des Films. Oder nur sehr, sehr bedingt. Jedenfalls hat es noch keinen Dokumentarfilm gegeben, der Realität nicht arrangiert, und es wird auch nie einen geben...
Oder nehmen wir Flaherty. Die Tatsache, daß er für seine Filme bis ans Ende der Welt gegangen ist, bedeutet noch lange nicht, daß sie „ehrlich“ wären. Vielmehr sind sie ausgesprochen romantisierend. Und ungeachtet der Tatsache, daß Flaherty authentische Menschen in ihrer authentischen Umgebung photographierte, sind sie sogar voller Lügen. Flaherty vereinigte fast alle Qualitäten, die ein Filmemacher braucht, in sich: er war handwerklich besser als alle anderen, er hatte Phantasie und Energie, er ordnete sein Leben voll und ganz der Arbeit unter - und blieb bei alldem doch immer nur ein Romantiker, der weder einsehen wollte noch konnte, daß all die „Realität“, die er photographierte, immer ganz anders war, als er sie sah - als er sie haben wollte. Ich will damit, wenn ich das sage, keineswegs etwa die Partei von Murnau ergreifen, noch meine ich das, was ich sage, im Sinne von Murnau. Ich sehe lediglich, daß bei Flaherty selbst die schrecklichsten, die tragischsten Dinge und Momente immer sehr viel „angenehmer“, sehr viel tragbarer waren - oder erschienen - als in der Wirklichkeit. Flahertys Blick auf die Wirklichkeit, sagen wir es so, war stets verklärt, oder: unter seinen Augen wurde alles zur Legende. Das ist nichts Schlechtes, keineswegs, wir sehen das bei John Ford, zum Beispiel, aber Flahertys Anspruch war ein anderer. Die Art und Weise, wie er die Menschen gesehen hat, und wie er wiederum die anderen dazu bringen wollte, daß sie sie sehen, das war, genau wie bei Ford, wie wenn man längst vergangener Dinge und Ereignisse sich erinnert - sie liegen in einem sentimentalen, zumindest aber versöhnenden Nebel. Flaherty ist soweit gegangen, den Eskimos viele Dinge, die sie schon längst vergessen hatten, wieder beizubringen, hat aber dann „vergessen“ zu sagen, daß das so gewesen war. Er hat auch die Einwohner der Aran-Inseln Dinge tun gelehrt, von denen er glaubte, daß ihre Vorfahren sie getan hätten. Nur: es ist ein Unterschied, ob man sagt, diese Menschen weben Stoffe auf eine bestimmte Art, die sie jedoch schon lange nicht mehr kennen, weil sie nämlich inzwischen Singer -Nähmaschinen benutzen. Dann, so sage ich, lügt man. Oder „schwindelt“ zumindest. Und das ist es, was ich mit dem Ausdruck „romantisch“ meine. Nichts gegen die Legende - und John Ford hat auf diesem Gebiet sehr wichtige und sehr unentbehrliche Filme gemacht -: aber man muß sagen, daß es eine ist, oder wann es eine ist. Dafür gibt es viele Methoden, das ist dann wieder dein Problem...
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