: Neue Lebensräume im Osten
Die bundesdeutsche Exportwirtschaft gehört zu den treuesten Anhängern Gorbatschows: In ihren Auftragsbüchern schlagen sich die Erfolge der Perestroika früher nieder als in den Regalen der sowjetischen Lebensmittelläden / Transfer von Management-knowhow / Amerikaner warnen vor neuer Westkreditwelle ■ Von Erhard Stölting
Eine Armada von Journalisten, Wirtschaftskapitänen, Ministern und Staatssekretären begleitet den Bundeskanzler nach Moskau. Die über sechzig Unternehmer im Troß verweisen darauf, daß es vor allem um Wirtschaftsbeziehungen geht. Fieberhaft wurde bis zum Schluß auf allen Ebenen, von der ministerialen bis zur mittelständischen, auf Unterschriftsreife hin verhandelt. Wenn dann in der strahlenden Anwesenheit von Gorbatschow und Kohl beim Unterschreiben von Verträgen, Rahmenabkommen, Zusatzabkommen und Absichtserklärungen die Kugelschreiber heiß werden, soll demonstriert werden: Es geht los. Die Perestroika soll endlich etwas für die bundesdeutsche Wirtschaft abwerfen.
Seit 1987 war vor allem guter Wille bekundet worden. Sogar Dregger legte den Stahlhelm ab und lobte die Perestroika; und Kohl hielt sich mit historischen Vergleichen zurück. Aber der Handel stagnierte weiter. Seit Gorbatschows Machtantritt 1985 hat die westdeutsche Industrie kein einziges Großprojekt mehr landen können.
Das lag vor allem an der sowjetischen Wirtschaftslage. Wie bei jeder ordentlichen Reform gab es erst einmal wirrwarr. Dem programmatischen Sprung folgte keiner in der Produktivität. Noch immer wuchs die Kaufkraft schneller als das Warenangebot. Die Versorgungssituation verschlechterte sich sogar, und das bedeutet - Glasnost hin, Perestroika her - eine politische Gefahr für die Reformer. Durch Importe war der Mangel auch kurzfristig nicht zu beheben, denn die Devisen blieben knapp. Kein Wunder, daß die sowjetischen Verantwortlichen auf ein polnisches Begehren nach Schuldenerlaß geradezu wütend reagierten. Sowjetische Produkte finden auf dem Weltmarkt auch weiterhin kaum Abnehmer, und die Weltmarktpreise für die Devisenbringer Erdöl und Gas sinken wieder. Ein Großteil des Geldes, das übrig bleibt, geht in Lebensmittelimporte. Dabei ließe sich viel einsparen. Nach sowjetischen Angaben vergammeln noch immer 15 Prozent der Fleischproduktion, ein Viertel des Getreides und mehr als die Hälfte der Obst- und Gemüseernte, bevor sie den Ladentisch erreicht haben.
Die Kredite fließen wieder
Jetzt fließen die Kredite. Bereits am letzten Montag wurde in Frankfurt ein Rahmenkreditabkommen über drei Milliarden Mark abgeschlossen. Es soll in Moskau feierlich bekräftigt werden. Die vielen einzeln auszuhandelnden Kredite sollen sowohl der sowjetischen Leicht- und Konsumgüterindustrie wie auch den westdeutschen Maschinenlieferanten zugute kommen. In ähnlicher Weise ist die Sowjetunion schon mit Italien (1,4 Mrd. Mark) und Großbritannien (5 Mrd. Mark) ins Geschäft gekommen. Mit Frankreich laufen die Verhandlungen. Prompt meldet Washington Sicherheitsbedenken an: Die Sowjets sollten sich nicht durch Westkredite aus der Entscheidung „Butter oder Kanonen“ davonschmuggeln dürfen, tönte es am Wochenende aus dem Umfeld Dukakis.
Andere Projekte zielen auf den Import moderner ziviler Technologien. Bei der Erschließung der riesigen Rohstoffreserven auf der nordrussischen Halbinsel Kola winkt ein Markt von 18,5 Mrd. Rubel Investitionsvolumen. In allein sechs Großprojekten im Bergbau könnten westdeutsche Unternehmen drei Milliarden Rubel verdienen. Um moderne Technologien geht es auch bei der geplanten Weltraum -Kooperation. Möglicherweise können die Technikfans in Wanne -Eickel sich demmächst ein Poster mit einem bundesdeutschen Astronauten in sowjetischem Raumanzug an die Wand pinnen. Allerdings will die Sowjetunion hier Geld sehen.
Schwierigkeiten beim Technologie-Transfer macht allerdings noch die berüchtigte Cocom-Liste, die den Mitgliedstaaten der NATO und Japan den Export irgendwie militärisch nutzbarer Geräte in Kommunistische Länder verbietet. Da sie aber die Exportindustrie, darunter vor allem den westdeutschen Maschinenbau sehr behinderte, und da die USA ihren eigenen Firmen eh über die Hälfte aller Ausnahmegenehmigungen zuschanzten, gab es im westlichen Lager längst Stunk. Im Sommer hatte selbst Kohl diese Liste als „ein Stück Heuchelei“ bezeichnet.
Arzt am Krankenbett
des Sozialismus?
Überhaupt schuf die Ostpolitik der Bundesregierung ein günstiges Exportklima. Gegen Hardliner wie Großbritannien, Portugal oder Frankreich ließen sich die westdeutschen Außenpolitiker eher auf sowjetische Wünsche nach einer Dynamisierung der Abrüstungsverhandlungen im konventionellen Bereich ein. Dieses Gebiet ist allerdings vermint. Die Bundespolitiker müssen sich des Verdachtes erwehren, sie strebten deutsch-sowjetische Flitterwochen auf Kosten der Westintegration, der Menschenrechte und der militärischen Sicherheit an. Deswegen die Bekenntnisse zur Westintegration aus Kanzlermunde in Moskau. Der gute Wille der Bundesregierung richtet sich nicht auf die Errichtung eines „gemeinsamen Hauses“, sondern auf die Intensivierung sachlicher Beziehungen. Eine florierende sowjetische Wirtschaft ließe auch mehr und bessere Geschäftsabschlüsse erwarten. Denen würde aber auch der Abbau fortbestehender Handelshemmnisse nützen.
So scheitert die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen vielfach noch daran, daß westliche Kapitalgeber keine Gewinne ausführen dürfen und daß sie in ihren Firmen zu wenig Mitbestimmungsrechte haben. Aus diesem Grunde ist die westdeutsche Seite auch hochmotiviert, beim Transfer der Managementkenntnisse, von avancierten Finanzierungstechniken bis zum internationalen Vertragsrecht, zu helfen. Es fehlen den neuen Strukturen eben noch Spezialisten, die binnen- wie außenwirtschaftlich eine Marktwirtschaft organisieren und betreiben können.
In den Lebensfragen der Nation wird Kohl allerdings nur teilweise Gehör finden. Wenn er sich als Anwalt aller Deutschen für die religiösen und sprachlichen Rechte der Sowjetdeutschen einsetzt, wird er auf freundliche Reaktionen stoßen.
Schwieriger wird sich das Problem der Berlin-Klauseln gestalten. Die sowjetische Regierung ist bislang nicht bereit, von ihrer Interpretation des Berlin-Abkommens abzurücken. Bei der Fülle der Abkommen, Absprachen und Sondierungen muß das die Stimmung aber nicht endgültig verderben. Auf eine abschließende gemeinsame politische Erklärung mit Gorbatschow will sich Kohl daher auch erst nach dessen Gegenbesuch im Frühjahr einlassen. Man weiß ja nie, was kommt, vielleicht schafft es Dukakis ja doch noch.
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